Page 18 - Volksdorfer Zeitung VZ 37 Mai 2019
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In Lokstedt hießen alle Hunde „Wasser“
Die Autorin Karin von Behr hat die erste kompakte und vollständige Biografie
über Leben und Wirken des berühmten Hamburger Architekten Martin Haller geschrieben, der auch in Volksdorf deutliche Spuren hinterlassen hat.
VON JAN MINCK
Das Buch beginnt mit ei-
nem Grußwort des Se-
nators für Kultur und Medien,
Dr. Carsten Brosda. Hinsicht-
lich des Gegenstandes der Ver- öffentlichung ist das absolut angemessen, hat Haller doch
mit dem Rathaus eine von Bro-
sdas Wirkungsstätten und ein
großes Hamburger Wahrzei-
chen maßgeblich mitgeschaf-
fen. Dieser Biografie liegen Hal-
lers, in einem Zeitraum von sie-
ben Jahren, um seinen 80. Ge-
burtstag herum niedergeschrie-
benen Memoiren zugrunde, die
Behr und ihr Team des Vereins für Hambur- gische Geschichte gesichtet und transkri- biert haben. Kein leichtes Unterfangen: Im Staatsarchiv Hamburg liegen über 1.000 Seiten handschriftlicher Kladde, zwar wohl strukturiert verfasst, doch in nur mit viel Mühe lesbarer Handschrift aufgezeichnet. Chapeau! ans Team für die Bewältigung dieser Mammutaufgabe! Die Auswertung dieser Lebenserinnerungen hat Behr dann für die Leserinnen und Leser noch einmal sehr gut aufbereitet.
Zeitfenster in historische Kontexte
Alle guten Biografien erbringen eine Leis- tung: Sie öffnen anhand der Lebensge- schichte Einzelner Zeitfenster in bestimmte historische Kontexte. In vorliegendem Fall ist das zwar insbesondere ein Einblick in das Leben der Hamburger Oberschicht des 19. Jahrhunderts mit deren Mechanismen, Gewohnheiten und Regularien. Doch fin- det hier etwa auch die Darstellung der bau- lichen Umgestaltung des gesamten Pari- ser Stadtbildes Mitte des 19. Jahrhunderts Raum, die Haller während seines Studiums in Frankreich miterlebt hat.
Haller war, wie Behr einmal mehr deut- lich macht, nicht nur fachlich als Archi- tekt und Baumeister herausragend, er be- saß auch eine erstaunliche Findigkeit bei der Bewältigung von Alltagsherausforde- rungen. Für den militärischen Wachdienst in der Hansestadt beispielsweise ergatterte er nicht nur die weitgehend kampfeinsatz- freie Stelle des Klarinettisten seines Batail- lons, er fand gar einen Stellvertreter, der ihm gegen den Sold noch diese Dienste ab- nahm. Begegnet sind sich Haller und sein
Jan Minck im Gespräch mit Karin von Behr
Strohmann hingegen nie... Moralisch si- cher diskutabel, doch unbestreitbar amü- sant, ist dieser Streich bezeichnend für Hallers Einfallsreichtum und Entschlossen- heit: modernes Outsourcing und Ressour- cenmanagement; die freigewordenen Ka- pazitäten hat Haller jedenfalls nicht zum Müßiggang genutzt.
Karin von Behr stellt mit der Schilderung solcher Details Hallers Sachverstand seine Phantasie gegenüber. Auf diese Weise ent- wickelt sie eine Art ganzheitliche Deutung von Hallers Intellekt, den sie als zu gleichen Teilen aus Genialität, Reflektiertheit, Spon- tanität und Humor bestehend interpretiert. Auch andere, scheinbar weniger bedeuten- de Anekdoten werden, häufig als wörtli- che Zitate, eingeflochten, z.B. über die vie- len Hunde in Lokstedt, „die merkwürdiger- weise alle ‚Wasser‘ hießen“, oder über eini- ge gröbere Streiche zu Hallers Studenten- zeiten, wie die Geschichte vom Esel samt Karren im Pariser Treppenhaus. („Rohhei- ten waren an der Tagesordnung, Platthei- ten nie!“)
Klassenbewusstsein
ohne Attitüde oder Arroganz
Haller verfügte zudem augenscheinlich über ein beträchtliches Maß an Verständnis für die Unterschiedlichkeit von Lebensum- ständen, war sich dabei aber stets seiner Zu- gehörigkeit zur Oberschicht und der damit einhergehenden Privilegien bewusst. Die Autorin transportiert das als eine Art neut- rales und weitgehend wertfreies Klassenbe- wusstsein ohne Attitüde oder Arroganz.
Behrs Ansatz bleibt durchweg deskrip- tiv, ganz der lesefreundlichen Vermittlung
der umfangreichen Kladden Hallers verschrieben. Ich deute das auch als Absicht, die eigene schriftstellerische Position, die Stimme der Autorin, möglichst in den Hintergrund zu stellen. Trotzdem scheint Behr von der zielstrebigen und ehrgeizigen Persönlichkeit Hallers durch- aus fasziniert zu sein, verständ- lich ob seines beeindrucken- den Lebenslaufes und natürlich der Tatsache, dass sie sich ver- mutlich so intensiv mit seiner Geschichte beschäftigt hat wie kaum jemand zuvor.
Kaum eine Rolle für Toni
Sachverhalte, die für mich nur schwer zu begreifen sind, z.B. der Umstand, dass in den über 1.000 Seiten handschriftlicher Le- benserinnerungen seine Ehefrau „Toni“ of- fenbar kaum eine Rolle spielt, kann Karin von Behr daher vielleicht auch besser nach- vollziehen: Möglicherweise wegen der Ver- tiefung in seinen Charakter? Vielleicht auf- grund des so intensiven Einblicks in die Ge- pflogenheiten der Zeit?
David Klemm von der Hamburger Kunst- halle steuert ergänzend einen Essay bei, der den Schwerpunkt noch einmal deutlich auf Hallers Beziehung zur Stadt Hamburg setzt und der als gelungene Zusammenfas- sung funktioniert.
Das Buch schließt mit einem gut ausgear- beiteten Anhang: Neben Zeittafel, Quellen- und Abbildungsnachweisen sowie Perso- nen-, Orts- und Bautenregister findet sich dort auch ein informatives Dankeswort.
Karin von Behr hat sich in ihren zahlrei- chen Veröffentlichungen unter anderem bereits mit der „Kaufmannsfamilie“ Ohlen- dorff und dem Künstler Emil Maetzel be- schäftigt. Sie hat ihrem Portfolio mit Mar- tin Haller 1835 - 1925. Privat- und Luxus- architekt aus Hamburg (Hamburg: Döl- ling und Galitz, 2019) einen weiteren wert- vollen biografischen Text hinzugefügt, der eine Figur von historischer Bedeutsamkeit für die Hansestadt Hamburg behandelt.
Karin von Behr: Martin Haller - „Privat- und Luxusarchitekt aus Hamburg“; München/ Hamburg (Dölling & Galitz Verlag), 192 S., 95 Farbabb., Leineneinband; € 24,90.
18 Volksdorfer Zeitung Mai 2019