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                                 „Verzieh dich, du mieser
Schienenersatzverkehr“,
„Dämlicher Fusselrasierer!“ So
was hört man selten. Also: nie!
Dabei ist der Vergleich ebenso weit
hergeholt. Wahrscheinlich sind jene, die
andere mit solchen verbalen Geschossen befeuern, sogar genau die, die keinen Tag ohne Dinkel-Chia-Knäcke überste- hen oder sich ihre Edelnussmischung sogar in den Urlaub nachschicken lassen.
„Spargeltarzan!“, „Bohnenstange!“, „Laber mir keinen Blumenkohl ans Ohr!“, „Was für ein Eierkopp“, „Alte Gurke“, „Du Lauch!“, „So eine Spinatwachtel!“, „Die hat doch einen an der Waffel“, „Voll die Puddingarme!“. Die Liste ist lang. Und ziemlich fies. Aber ist sie auch so willkürlich, wie sie scheint, oder lohnt es sich doch, mal sprachwissenschaftlich einzusteigen? Wenn man sich auf Spurensuche begibt, stößt man tatsächlich auf Hinweise, wie alles seinen Anfang genommen haben könnte. Kurzer Abstecher zu den Wurst- und Fleischwaren: „Beleidigte Leberwurst!“ Wie kommt man auf so was? Haben Würste doch Gefühle? Oder muss man den Kontext kennen, um die Sache zu verstehen? In diesem Fall ja. Denn ob Trauer, Liebe oder Wut – im Mittelalter ging die Medizin davon aus, dass alle Emotionen in der Leber pro- duziert werden. Wenn sich jemand ärgerte, dann hieß es, er hätte eine „beleidigte Leber“. Auch nicht ohne Grund nen- nen wir eine Freundin, die sich nie meldet, „treulose Tomate“. Die Redewendung soll auf den Ersten Weltkrieg zurückgehen, als der damalige Deutschlandverbündete Italien sich auf die Seite der Alliierten schlug. Man setzte die
„untreuen“ Italiener mit der in nördlicheren Gefilden
schwer kultivierbaren Pflanze gleich. Mag ja alles sein. Trotzdem
hätte es (seit dem Mittelalter sowieso, aber auch seit Kriegsende im Jahr 1918) doch
mehr als genug Gelegenheit gegeben, sich endlich mal etwas anderes zu überlegen. Denn wer sich solche Gemein- heiten wie Muffin-Top als Bezeichnung für den Bauch- und Hüftspeck ausdenkt, der sich manchmal über den Hosen- bund wölbt, dem mangelt es zumindest nicht an Kreativität.
Wahrscheinlich würde ich nicht so weit gehen, eine Pe- tition ins Leben zu rufen oder mich in einer Protestaktion gegen die Verunglimpfung von Nahrungsmitteln an die Straße zu kleben. Trotzdem könnten wir langsam mal damit aufhören, auf all dem rumzuhacken, was uns zu köstlicher Minestrone, liebevoll selbst gerührtem Spargelrisotto oder fluffigem Beerensoufflé verhilft. Warum fangen wir nicht stattdessen damit an, die negativen Bedeutungen umzuwer- ten und die Dinge wieder als das zu betrachten, was sie sind, nämlich köstliche Großartigkeiten, die man nicht genug wertschätzen kann?
Noch toller wäre es, wenn wir uns dadurch selbst etwas weniger kritisch betrachten würden. Eine Orange ist doch wunderschön, trotz oder gerade wegen ihrer charakteristi- schen Dellen! Und oft staune ich, wie die Natur so etwas Per- fektes hervorbringen kann. Wenn wir es schon nicht lassen können, uns mit Kulinarischem zu vergleichen, dann doch bitte so, dass wir beides feiern: die Lebensmittel und uns selbst, mit all den Besonderheiten, die uns ausmachen. ●
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