Page 14 - tegut Marktplatz 6-2024
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AUF D ER ZUN GE
FOTO Marianne Moosherr
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„ÄH, MOMENT, ES LIEGT
MIR AUF DER ZUNGE …“
Zu Weihnachten kommen wir oft mit Menschen zusammen, die wir
schon ewig nicht gesprochen haben. Die Schwierigkeit: An viele Details
aus ihrem Leben können wir uns nicht mehr erinnern. Was tun?
TEXT Katrin Seyfert
ILLUSTRATION Anna Micheloni
K ennen Sie dieses Gefühl, dass man buchstäblich einen
Namen, einen Begriff, einen Na-sag-schon auf der
Zungenspitze kleben hat, ganz vorn, ihn aber nicht ausspu-
cken beziehungsweise nennen kann?
Manchmal drücke ich dann die Zunge an meinen Gau-
men, um sie zu wecken, zu rütteln und um ihr zu zeigen:
Spuck’s endlich aus, das Wort, das doofe!
Weihnachten ist für mich immer so ein ganz schlimmer
Zungen-Monat. Denn dann tauchen wie durch Zauberhand
viele Menschen in meinem Umfeld auf, die ich schon lange
nicht mehr gesehen habe. Als würden sie alle auf den letzten
Metern des alten Jahres noch Beziehungs-Gut einsammeln
wollen. Etwa der Student, der vorm Supermarkt den Kindern
ein Körbchen mit Süßigkeiten überreicht. Mit dem habe ich
mich doch beim letzten Mal noch länger unterhalten. Worum
ging es dabei noch mal? Und was hat der noch mal studiert,
warte mal … verdammt. Jetzt besser nicht erneut in einen
Small Talk verwickeln lassen.
Eine noch größere Herausforderung ist der zweite Weih-
nachtstag für mich. Da essen wir traditionell in großer Runde
bei den Schwiegereltern. Aber wie hieß die Freundin vom
jüngsten Enkel noch mal? Jetzt bloß nichts Falsches sagen
und desinteressiert rüberkommen! War es Anna, Amalia,
Antonia oder doch was mit L am Anfang? Und wo hatten die
beiden sich noch gleich kennengelernt? Mein sonst so super-
fixes Hirn antwortet erschöpft: Frag mich was anderes.
Oder die nette Nachbarin, die immer zum Weihnachtsgot-
tesdienst kommt, die mich schon von weit hinten winkend
begrüßt, oh Gott im Himmel, lass mal eben von der Geburt
deines Sohnes ab, sag mir statt dessen ganz schnell: Wie hieß
die noch mal? Niemand hier, der mir weiterhelfen könnte,
und sie kommt immer näher …
Ein Stück weit habe ich gelernt, mich zu entspannen, was
solche Situationen angeht, seit mein Mann an einer
frühen Form von Alzheimer erkrankte. Er hat mir schon
ganz flugs nach Beginn der Krankheit beigebracht, wie man
mit solchen Erinnerungsaussetzern charmant und effizient
umgeht: lügen, was das Zeug hält. So tun, als ob. Kompen-
sieren. Sich nicht anmerken lassen, dass man gerade einen
Hänger hat. Das funktioniert nicht immer, aber wenn, dann
gut – besonders bei Leuten, die man nicht so oft sieht. Wie
an Weihnachten zum Beispiel.
Einmal standen mein Mann und ich beim Tannenbaum-
verkauf in der Nachbarschaft. Der Verkäufer kannte Marc
schon seit Jahren, wusste um seine Krankheit, wollte hel-
fen – und verwickelte ihn in ein verhängnisvolles Gespräch:
„Herr Doktor, so viele Jahre haben Sie schon bei mir eingekauft.
Immer zum Fest der Feste. Immer, um den lieben
Kindern eine Freude zu machen.“ Marc nickte eifrig. Ja,
ja, ja. Kompensieren, kompensieren. Aber dann schoss es
aus ihm heraus: „So viele Eier habe ich schon gekauft.
Und alle versteckt.“
Wir standen in einem Wald von Tannenbäumen, in einem
Heer aus Glühweintrinkenden – und mein Mann sprach von
Ostern! Die, die ihn nicht kannten, guckten erstaunt, die, die
ihn flüchtig kannten, schauten betroffen auf ihre Schuhe,
und die, die ihn sehr gut kannten – lachten laut los. Und ist
das nicht das Wichtigste an Weihnachten: Gemeinschaft?
Egal, wie klar man gerade im Kopf ist.
In all den fünf Jahren, in denen mein Mann an Alzheimer
litt, brachte er mir über das Fest der Feste mehr bei, als ich in
meinen 51 Jahren zuvor gelernt hatte. Vor allem brachte er
mir bei: Weihnachten wird erst dann richtig schön, wenn es
nicht perfekt ist. Einmal feierten wir Heiligabend mit nur
einem halbseitig geschmückten Baum, ein anderes Mal aßen
wir alle 17 (!) Schokoladenpuddings vor dem eigentlichen
Festessen und waren danach so pappsatt, dass die Gans im
Ofen schweigend vor sich hin dörrte und gar nicht daran
dachte, in Form zu bleiben. Und einmal vergaßen wir sogar,
Tante Dings vom Bahnhof abzuholen.
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