Page 51 - Birgit Nilsson Book
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Erinnerungen des Decca-Produzenten Christopher Raeburn*
Birgit Nilsson war gerade dabei, ein Weltstar zu werden, als ich sie Mitte der fünfziger Jahre erstmals in Wien traf. Ich bin mir nicht sicher, ob sie damals überhaupt schon Aufnahmen gemacht hatte – sicher jedenfalls nicht für Decca. Ihr erster Auftritt in Wien war die Sieglinde gewesen, und ihre Rollen waren dann eher jugendlich-dramatisch als dramatisch. Obwohl wir nicht direkt Altersgenossen waren, wurden wir Freunde, und ich nahm an, ihr gutgemeinte Kritik und Ratschläge zu geben. Ich erinnere mich an ihren ersten Auftritt in Salome, und damals wurde sie von einer Ballett-Tänzerin beim „Tanz der sieben Schleier“ gedoubelt. Ich schlug ihr vor, dass sie wenigstens ein bisschen atemlos erscheinen sollte, und nicht so, als hätte sie gerade eine wohlverdiente Pause in ihrer Umkleidekabine genossen. Ich muss sagen, dass sie den Rat positiv aufgenommen hat, und viel später, als ich einer ihrer Produzenten wurde, war sie immer offen für Vorschläge.
Sie war ein großartiger Teamplayer und eine höchst loyale Kollegin. Als sie ein Weltstar geworden war, konnte sie sich ihrer Platten rma (nicht immer Decca), widersetzen, wenn diese ihr einen ihrer festen Vertragssänger als Partner aufnötigen wollten, anstatt jemanden zu wählen, den sie als künstlerisch passender empfand. Schließlich zählte Eignung mehr als persönliche Freundschaft, obwohl diese auch eine Rolle spielte. Weil Birgit die führende dramatische Sopranistin ihrer Zeit war, konnte sie den Eindruck erwecken, sie sei abwesend und kalt. Dies ist aber weit gefehlt. Sie liebte es, dabei zu sein und mitzumachen, sie hatte ein höchst ansteckendes Lachen und genoss es, Spaß zu haben. Ihr dramatisches Spektrum ist beeindruckend. Abgesehen von dem offensichtlichen Wagner- Repertoire ist sie in Sibelius‘ “Höstkväll” niemandem – einschließlich Kirsten Flagstad – vergleichbar, doch hatte sie auch viel Sinn für Pathos, vor allem bei Strauss-Rollen wie Elektra und der Färberin.
Da ich ihren Sinn für Humor kannte, bot ich ihr, eher spät in ihrer Karriere, die Rolle der Hexe in Hänsel und Gretel an. Obwohl ich dachte, dass sie sie gerne singen und spielen würde, war sie in keiner Weise bereit, eine derartige Charakterrolle zu übernehmen. Aber sie bot sofort an, den Hänsel zu singen. Das ist Birgit – und sie ist mir immer eine liebe Freundin geblieben.
* Christopher Raeburn (1928-2009) hat diese persönliche Erinnerung ursprünglich für ein 2003 erschienenes 2-CD-Portrait von Birgit Nilsson verfasst.
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