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„Des Mörders Bild im Auge seines Opfers. Sowas lesen sie liebend gern.“1 - James Joyce
Der Vergleich von Auge und Kamera ist in etwa so alt wie die Fotografie selbst. Und die Analogien in der Funktionsweise des Organs und des Apparats le- gen dies auch nah. Wie durch die Blende der Kamera gelangen Lichtstrahlen durch die Pupille des Auges und werden auf die Netzhaut projiziert wie auf einen lichtempfindlichen Träger. In beiden Fällen spiegelt und verkleinert eine Linse das Abbild. Doch bereits früh in ihrer Geschichte gelingt es der Fotografie, aus diesen Gemeinsamkeiten auszubrechen. Während Muybridge neues Licht auf Bewegungsabläufe wirft und Wilhelm Röntgen Körper durchleuchtet, macht der Geisterfotograf Wilhelm Hope auf weniger wis- senschaftliche Art Fotografie zum Medium zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem: ein guter Nährboden für die aufkeimende Optographie.
Dieser liegt die Annahme zu Grunde, dass das menschliche Auge im Moment des Todes zur tatsächlichen Kamera wird und sich das letzte wahrgenommene Bild dauerhaft auf der Netzhaut abzeichnet. Mit ihrer Hilfe sollen die Opfer von Gewaltverbrechen posthum zu Augenzeugen ihres eigenen Mordes gemacht werden: Einer der ersten aufgezeichneten Versuche findet sich im „Photogra- phischen Journal“ aus dem Jahr 1857: „Dr. Pollack [...] hat gefunden, dass die ‚Todesbilder‘ die letzten Eindrücke auf der Retina unter dem Mikroskop wun- derbar zart, klar und genau sich darstellen.“ 2 Der Arzt entdeckte bei seinen Untersuchungen der Netz- haut des Opfers vermeintlich „die rohe, vorwärts ge- beugte Gestalt eines Mannes in einem hellen Rocke, und neben ihm, gleichsam in der Luft aufgehangen oder schwebend einen Stein“ 3, also Täter und Tat- waffe. Auch wenn der Fund letztendlich nicht zur Aufklärung beiträgt, erfreut sich die Praxis der Reti- na-Extraktion auch in der Folgezeit großer Beliebt- heit. Das wohl prominenteste Beispiel ist das Öffnen der Augen zweier Opfer Jack the Rippers 1888. Jedoch vermag es auch die Optographie nicht, Licht in das Dunkel dieses mysteriösen Falles zu bringen, in dessen Geschichte sich passenderweise seit jeher
klassisch-kriminologische und naturwissenschaft- liche Herangehensweisen mit Aberglaube mischen. Am 8. Dezember 1924 berichtet die New York Times über ein vermeintlich entdecktes Täterbild in den Augen eines der acht Opfer – dem Gärtner – des später überführten Massenmörders Fritz Angerstein: „The retina of one yielded a picture of Angerstein’s face. The other showed the same face, contorted with rage, and the blade of the axe with which the murders were commited.“ Zwar wird die Fotografie des Fundes letztendlich nicht als Beweismittel für den Prozess zugelassen, doch trägt deren angebliche Existenz mit dazu bei, dass der Täter gesteht.
Spätestens mit dem Fall Angerstein wird die Opto- graphie in die Welt der Fiktion verbannt, wo sie
in Filmen wie „The Invisible Ray“ (1936) dennoch weiter die menschliche Faszination mit der Ähnlich- keit von Auge und Kamera widerspiegelt. Bis die Menschheit eine Möglichkeit entwickelt, die erst
im Gehirn zum Bild sich wandelnden visuellen Reize optisch wahrnehmbar auszugeben, bleiben diese vor fremden Blicken geschützt. Denn auf der Netzhaut, „auf der Ebene der Rezeptoren“, so der Gehirn- wissenschaftler Gerhard Roth, „existieren keinerlei Abbilder der Welt, sondern ein Mosaik elementarer Erregungszustände.“ 4
1 James Joyce, Ulysses, Frankfurt a.M., 1981, S. 144.
2 Photographisches Journal, Band 8, 1857, S. 87.
3 ebd.
4 siehe: Florian Rötzer, Was heißt: Sich in Bildern orientie-
ren?, Denkprozesse der Fotografie, Bielefeld, 2010, S. 188.