Page 11 - Jahresbericht Hans-Böckler-Stiftung 2020
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Es ist für uns seit jetzt mehr als einem Jahr deutlich schwerer, die Beschäftigten anzusprechen und unsere Mitglieder in den Betrieben zu erreichen. Auch wenn es systemrelevante Bereiche gibt, in denen die Menschen wie sonst auch zur Arbeit gehen: Oft ist der Betriebsrat im Homeoffice, sind unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort im Home- office. Da fehlt die direkte Ansprache, der persönli- che Kontakt. Das beeinträchtigt unsere Arbeit sehr und hat direkten Einfluss auf unsere Mitgliederzah- len. Auch die Delegiertenkonferenzen zur Vorberei- tung auf den Gewerkschaftskongress der IG BCE im Herbst mussten und müssen ganz überwiegend digital stattfinden. Das ist nicht, wie wir uns Gewerkschaftsarbeit vorstellen, und darunter lei- den wir, glaube ich, alle. Inwieweit haben Sie digitale Zugangsrechte zu den Betrieben? Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt einige positive Beispiele, wo wir alle internen digitalen Plattformen nutzen dürfen. Aber viele Unternehmen sagen: Das interessiert uns nicht, ihr könnt analog ans Tor marschieren und gucken, ob ihr jemanden trefft. Aber den Zugang zu unserem Intranet oder zu unseren digitalen schwarzen Brettern, den kriegt ihr nicht. Oder unsere Mails werden als Spam aus- gefiltert. Und das ist für uns natürlich ein riesiges Problem. Wir haben deswegen jetzt ein großes deutsches Unternehmen verklagt, als eine Art Prä- zedenzfall. Das Hugo-Sinzheimer-Institut der Hans- Böckler-Stiftung unterstützt uns dabei mit gutach- terlicher Expertise. In ihrem kürzlich vorgelegten Eckpunktepapier zur Stärkung der Sozialpartnerschaft plädieren Arbeits- minister Hubertus Heil und Finanzminister Olaf Scholz für eine Verankerung des digitalen Zugangs- rechts im Tarifvertragsgesetz. Was halten Sie von dieser Initiative? Der Ansatz ist zweifellos richtig. Aber das Vorha- ben steht nicht im Koalitionsvertrag und wird also vor den Bundestagswahlen ganz sicher nicht mehr umgesetzt. Ich hoffe, dass sich auch nach den Wahlen noch jemand daran erinnern kann. Denn gerade mit Blick auf die Betriebsratswahlen im kommenden Jahr wäre eine solche Regelung sehr wichtig. Vor Corona war die sozial-ökologische Transforma- tion die größte Zukunftsaufgabe. Droht der faire und klimaneutrale Umbau der Wirtschaft durch die Pandemie ins Hintertreffen zu geraten? Natürlich stehen die Folgen der Pandemie gerade im Vordergrund. Aber die Notwendigkeit, künftig CO2-neutral zu wirtschaften, löst sich dadurch ja nicht in Luft auf. Das ist eine ganz elementare Frage für den Industriestandort Deutschland. Ich glaube deshalb nicht, dass dieses Thema zurückge- drängt werden wird. Wichtig ist aber, dass die sozi- ale Seite der Transformation dabei im Blick bleibt. Dass für Arbeitsplätze, die im Zuge der Transfor- mation verschwinden, auch neue geschaffen wer- den. Ich glaube, dass das Hand in Hand gehen kann, und für die Kohlereviere haben wir da ja auch schon gute Lösungen gefunden. Wir müssen die Kreativität und die Innovationsfähigkeit, die wir in Deutschland haben, noch einmal ankurbeln. Das IMK der Hans-Böckler-Stiftung hat zusammen mit der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE einen Transformationsfonds vorgeschlagen: Unter- nehmen könnten daraus Geld für frühzeitige Inves- titionen beispielsweise in grünen Wasserstoff bekommen, der Staat würde im Gegenzug Eigen- tumsanteile erhalten. Wie realistisch ist so etwas? Ich halte das für einen sehr guten Vorschlag. Das vorgeschlagene Volumen von 120 Milliarden Euro wirkt zwar auf den ersten Blick gigantisch groß. Aber wenn wir echte Anreize setzen wollen, um Industriearbeitsplätze ökologisch auszugestalten, dann brauchen wir diese Mittel. Das ist finanzinten- siv, ja. Aber langfristig zahlt es sich aus. Ob dieses Konzept jemals genauso umgesetzt werden wird, weiß ich natürlich nicht. Doch die Idee ist jetzt in der Welt und kann diskutiert werden, das finde ich wichtig. Wir tun gut daran, solche Instrumente zumindest zu entwickeln. Man kann ja immer viel kritisieren, kann das langsame Tempo der Energie- wende beklagen. Aber allein damit ändert man halt noch nichts. Man muss auch konstruktive Vor- schläge machen und das haben wir getan. Vielen Dank für das Gespräch! ZWÖLF FRAGEN AN KARIN ERHARD Jahresbericht 2020 · Seite 11