Page 123 - Werder-Schach-Magazin-2015-1
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Die Weltmeisterschaft und Werder

Im November 2013 hatte die Weltmeisterschaft zwischen dem Ti-
telverteidiger Viswanathan Anand und dem Herausforderer Magnus
Carlsen im Austragungsland Indien und in dem Land des späteren
Siegers Norwegen für einen wahren Medienhype gesorgt, dessen
Wellen sogar bis an den Weserstrand schwappten. Plötzlich baten
Journalisten vom Weserkurier um ein Interview und Radio Bremen
tauchte beim Training auf. Ein Jahr später verlief die Weltmeister-
schaft deutlich ruhiger. Ob es an dem kurzen zeitlichen Abstand, an
den gleichen Gegnern oder dem umstrittenen Austragungsort Sot-
schi lag? Nils-Lennart Heldt hatte gleich, nachdem ich die erste Nie-
derlage Anands in der zweiten Partie beim Jugendtraining zeigte,
eine Erklärung parat: „Das Ganze ist völlig sinnlos. Carlsen gewinnt sowieso. Warum spie-
len die überhaupt?“ Ich versuchte Nils mühsam zu erklären, dass auch in anderen Sport-
arten Wettkämpfe zwischen einem Favoriten und einem Außenseiter ausgetragen werden
ohne die Sinnhaftigkeit in Frage zu stellen, aber er war nicht überzeugt. Auf einmal stand
Herr Biereichel von Werder-TV in der Tür. Ich hatte bei der Terminflut in der letzten Zeit völlig
vergessen, dass er sein Kommen angekündigt hatte und fragte ihn, ob er mit mir über die
Weltmeisterschaft sprechen wollte. „Nein, ich bin wegen der Deutschen Meisterschaft in Ver-
den hier. Der Carlsen gewinnt doch bestimmt sowieso, nicht wahr?“ Ich erzählte ihm, dass
das nicht so klar sei und dass Carlsen seit einem Jahr kein Turnier mehr gewonnen habe,
aber der Fernsehmann musterte mich skeptisch ob meines mangelnden Sachverstandes.
Als Anand in der dritten Partie für den Ausgleich sorgte, kippte plötzlich die Stimmung im
Netz und die selbsternannten und auch tatsächlichen Experten sprachen von einem engen
Match, in dem alles möglich sei. Der Verlust der sechsten Partie nach dem Austausch von
zwei groben Fehlern der Meister bestätigte alle Kiebitze im Netz, die sich sicher sind, dass
sie (mit etwas Hilfe von ihren Computern) sowieso viel besser sind als Carlsen und Anand.
Besonders bitter für Vishy war, dass der seinen Fehler sofort bemerkende Magnus nicht in
der Lage war, seine Emotionen zu kontrollieren, dem lediglich auf das Brett konzentrierten
Inder dies aber nicht auffiel. Höchstwahrscheinlich hatte Anand vorher mit seinen Sekun-
danten festgelegt, überhaupt nicht auf Carlsens Verhalten am Brett zu achten, um sich nicht
von der teilweise unangemessenen Körpersprache des jungen Norwegers ablenken zu
lassen. An dem Tag der sechsten Partie weilte zufälligerweise Anands Vorgänger auf dem
Weltmeisterschaftsthron Vladimir Kramnik in Sotchi. Natürlich bemerkte „Vlad“, der seinen
alten Kumpel Peter Svidler bei der Livekommentierung assistierte, den „Doppelfehler“ so-
fort und prognostizierte noch während die sechste Partie lief, dass Anand sich von diesem
Fehler psychologisch nicht erholen würde, die sechste Partie und auch das Match verlieren
würde. Der Meister hatte sein Urteil gesprochen und es kam alles so wie er es gesagt hatte:
Carlsen gewann die sechste und die elfte Partie und blieb mit einem Gesamtergebnis von
6,5-4,5 Weltmeister. Nach der letzten Partie twitterte Magnus „2 down, 5 to go“ und spielte
damit auf Kasparow an, der seinen Titel immerhin siebenmal verteidigt hatte. Nachdem alles
vorbei war, unterhielt ich mich mit Martin Breutigam über die WM und wir waren uns einig,
dass die nächste hoffentlich wieder im Westen stattfinden wird – vielleicht in den USA?

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