Page 560 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 560

wenn einmal Einer in irgend etwas klüger erfunden wird, als seine
                Vorfahren! Und doch sind wir es voll Gleichmuth zufrieden, daß ihre
                weisesten Rathschlüsse unausgeführt bleiben, und wenn in einer

                Angelegenheit eine bessere Maßregel hätte getroffen werden können, so
                ergreifen wir begierig die Gelegenheit, unsern Tadel anzubringen. So bin
                ich gar häufig andernorts auf hochmüthige, alberne, grillenhafte Urtheile
                gestoßen, einmal auch in England.«
                     »So warst du, bitte, auch in England?« fragte ich.
                     »Ja,« sagte er, »ich habe mich einige Monate dort aufgehalten, nicht
                lange nach der kläglichen Niederlage, mit welcher der Bürgerkrieg der

                Westengländer gegen den König unterdrückt worden ist.«
                     Während der Zeit war ich dem hochehrwürdigen Vater Johannes
                Morton, Kardinal-Erzbischof von Canterbury, zur Zeit auch Kanzler von
                England, zu großem Danke verpflichtet, einem Manne, lieber Peter, [dem
                Morus sage ich damit nichts Neues] nicht weniger verehrungswürdig
                durch Weisheit und Tugend als durch hohe Stellung. Er war von mittlerer

                Statur, die Last der Jahre beugte ihn nicht, sein Antlitz ehrwürdig, im
                Umgange ist er nicht schwierig, doch von ernstem Wesen. Er liebte es
                zuweilen, Bittsteller durch einen rauhen Anstrich, aber harmlos, auf die
                Probe zu stellen, wie weit ihre Geistesgegenwart und ihr Freimuth gehe,
                und war darüber, wenn nur keine Frechheit dabei war, als über etwas
                seiner Natur Verwandtes entzückt. Einen solchen wählte er gern für
                einen Staatsdienstposten. Seine Rede war fein und markig, seine

                Rechtskenntniß groß, seine Geistesanlage unvergleichlich, sein
                Gedächtniß fabelhaft. Diese von Natur hervorragenden Gaben hatte er
                durch Studium und Praxis noch weiter ausgebildet. Auf dessen Rath
                schien mir der König viel zu geben und sich auf ihn zu stützen, denn er
                war in frühester Jugend von der Schule weg an den Hof gezogen und
                durch alle Lebensalter in den wichtigsten Staatsgeschäften und in den

                mannigfaltigsten Brandungen des Schicksals unaufhörlich hin- und
                hergeworfen worden und hatte so praktische Weltkunde unter vielen und
                großen Gefahren sich angeeignet, und die so erworbene haftet
                unverlierbar.-
                     Als ich eines Tages bei ihm zu Tische war, war auch ein eurer
                Gesetze kundiger Mann aus dem Laienstande zugegen, der aus irgend
                einem mir unbekannten Anlasse jene stramme Justiz zu loben begann,

                die damals dort zu Lande eifrigst gegen die Diebe gehandhabt wurde,
                die, wie er erzählte, meist zu zwanzig an's Kreuz geheftet wurden. Er
                sagte, er wundere sich nicht wenig, daß es, obwohl nur Wenige der
                Todesstrafe entgingen, doch allerorten von Dieben wimmle.





                                                          559
   555   556   557   558   559   560   561   562   563   564   565