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Kinder: Entdecker und Erfinder –
auch beim Lesen- und Schreibenlernen
Ermutigung
Ein neues Schuljahr beginnt – lassen Sie sich als Elternvertreter in die ent- sprechenden Gremien der Schule Ihres Kindes wählen! So bekommen Sie einen unmittelbaren Einblick in die Grundschularbeit. Und Sie haben die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Lehrerkollegium Schule zu gestalten. Gute Schule kann ohne Eltern nicht gelingen!
Die Fibel führt Kinder in die Schriftsprache ein. So hat die Schule fast 500 Jahre lang gedacht. Heute wissen wir: Der Schulan- fang ist keine Stunde Null. Schulanfänger kennen im Durchschnitt etwa 10 Buchsta- ben. Die meisten können zumindest ihren Namen schreiben. Und viele bringen be- reits Vorstellungen mit, wozu Lesen und Schreiben gut ist. Aber auch, wie Schrift funktioniert. Diese Vorstellungen mögen noch unvollständig oder falsch sein (➝ Abb. 1). Dennoch beeinflussen sie, wie Kinder das aufnehmen, was der Unter- richt ihnen anbietet und abverlangt. Wir müssen ihre Vorstellungen verstehen und ernst nehmen, wenn wir sie dort abholen wollen, wo sie jeweils stehen.
Abb. 1: Ein Vor- schulkind schreibt vier Buchstaben für »vier Katzen« und zwei Buchstaben für »zwei Katzen«
(aus: Ferreiro / Teberosky 1979/1982)
Denn Fehler sind Versuche. Beim Lernen vereinfachen auch wir Erwachsenen die erwartete Leistung, z.B. wenn wir eine Fremdsprache lernen. Solche Vorformen sind für uns selbstverständlich, wenn Kinder vor der Schule laufen, denken und sprechen lernen. Sie sagen HEIZ- SCHRANK zum Herd und erzählen uns, dass die VOGELS GESINGT haben.
Auch beim Lesen zeigen sich in den Fehlern wichtige Vorformen. Wenn ein Kind POLIZEI liest, wo POST steht, hat es schon viel von der Schrift verstanden. Es beachtet die Gleichheit der Anfangs- buchstaben und nicht mehr unwesent- liche Merkmale des Wortes, z.B. seine Länge oder Farbe.
Nun kann es den nächsten Schritt tun. Es erliest dann alle Buchstaben nacheinander. Dabei entstehen aber oft Kunstwörter wie P-OOO-SS-T. Die Kinder müssen also eine weitere Strategie er- werben: die aktive Sinnerwartung. Nach dem Lautieren müssen sie also bewusst überlegen: »Was für ein Wort kann das werden?«
Der Rechtschreibung nähern sich Kin- der ebenfalls über Vor- und Zwischen- formen, wie Abb. 2 zeigt. Zunächst wird
der Anlaut erkennbar aufgeschrieben. Im zweiten Beispiel sind alle Mitlaute wie- dergegeben. Die vollständige Lautschrift BLETA ermöglicht dem Leser, das Wort genauso auszusprechen wie die Schrei- berin und es auf diesem Weg zu verste- hen. Beim vierten und fünften Versuch werden schon Rechtschreibmuster ge- nutzt. Diese können nicht mehr allein aus dem Abhören abgeleitet werden.
Abb. 2: Ein Kind schreibt alle paar Monate das Wort BLÄTTER – immer falsch, aber immer »besser falsch«
Diese Abfolge ist typisch für viele Kinder. Zwar gibt es individuelle Abweichungen wie PLETA oder BLETR. Aber die Fehler folgen einer Logik: Die Kinder bewältigen eine Schwierigkeit nach der anderen. Wie die Schreibversuche in Abb. 3 zeigen, ist diese Entwicklung normal: Leistungsstar- ke Kinder machen dieselben Fehler wie leistungsschwache – nur viel früher und teilweise schon vor Schulbeginn.
Liebe Eltern,
kann das wirklich sein, dass Kinder Schrift und Zahlen nicht nur entdecken, sondern sogar selbst erfinden? Ja, viele Untersu- chungen belegen, was die Beispiele auf diesen Seiten anschaulich zeigen: Kinder sind kreativ, sie machen sich eigene Ge- danken, wenn sie lernen zu lesen und zu schreiben (und ebenso zu rechnen usw.). Kinder (und Erwachsene ...) ahmen beim Lernen nicht einfach nach, was ihnen vorgemacht wird. Sie machen sich ihren eigenen Reim auf die Welt, auch auf die Welt der Schrift. Üben kann diese eige- nen Versuche nicht ersetzen. Es kann hel- fen Verstandenes zu festigen. Aber Üben gegen das aktuelle Denken verspricht keinen Erfolg.
Und woher weiß man, was Kinder über Schrift, Zahlen und Schule denken? In- dem man sie fragt! Oder ihnen passende Geschichten vorliest, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, z. B. »Neues vom Franz« von Christine Nöstlinger, »Ich will auch in die Schule« von Astrid Lindgren oder »Das Olchi-ABC« von Erhard Dietl. Auf www.grundschuleltern.info haben wir Ihnen eine Liste von Titeln zusam- mengestellt, die sich auch als Grundstock für eine kleine Klassenbibliothek eignen.
Abb. 3: Kinder schreiben über die Grund- schulzeit hinweg alle sechs Monate »Blätter«: linke Spalte ein besonders leistungsstarkes Kind, rechts ein langsamer
Lerner (nach: May, P. (1991, S. 95): Kinder lernen rechtschreiben)
(Fortsetzung S. 22)
3x FALSCH und 2x RICHTIG?
(1) KINO
(2) KINO
(3) KINNO
(5) KINO
(4) KIENO (Auflösung s. S. 24)
02 • September 2011 23


































































































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