Page 39 - IHK_E_Book_04_2023
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Ein weiteres störendes Detail ist, dass laut Bran- chenverband BVLH gerade sieben Prozent der in Deutschland entstehenden Lebensmittelverluste im Handel anfallen. Schätzungsweise gehen 50 Prozent auf private Haushalte zurück, also seien Aufklärungskampagnen, die an die Verbraucher gerichtet sind, der wirksamere Hebel.
Eine weitere rechtliche Stellschraube benennt im „Spiegel“ Verbandsgeschäftsführer Franz-Martin Rausch: „Wenn Staat und Politik wirksam die Lebensmittelverschwendung redu- zieren wollen, sollten Lebensmittelunternehmen und gemeinnützige Organisationen dabei unter- stützt werden, mehr verzehrfähige Lebensmit- tel zu spenden und an Bedürftige zu verteilen“, denn bisher falle bei solchen Spenden die Mehr- wertsteuer an. In Frankreich ist es großen Einzel- händlern und Supermärkten seit 2016 nebenbei verboten, Lebensmittel wegzuwerfen, sie müssen gespendet werden.
Abgelaufene Ware in Umlauf bringen
Gespendet werden Lebensmittel in Deutsch- land bisher freiwillig, an gemeinnützige Orga- nisationen wie die Tafeln. Seit mehreren Jahren besteht ferner die Möglichkeit, Waren mir kur- zem Haltbarkeitsdatum an Unternehmen weiter- zureichen, die sie wieder in den Umlauf bringen. Beispiele dafür sind Too Good To Go, Motatos oder Sirplus. Letztere starteten in Berlin 2017, gewannen 2018 den Green Buddy Award und eröffneten schnell nacheinander neue Stand- orte. Der Dämpfer kam im September 2021, als Sirplus alle fünf Läden schließen und Mitarbeiter entlassen musste. Seitdem beschränkt sich das Start-up aufs Online-Geschäft, ähnlich wie die Mitbewerber.
Dass es bei dieser Frage nicht schnell und ein- fach geht, merkten die Aktivisten der „Letzten Generation“. Anfänglich verbanden sie ihre Kle- beproteste mit der Forderung, ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung zu verabschie- den. Sie nahmen auch Lebensmittel aus Super- marktmülltonnen und verteilten sie in öffent- lichkeitswirksamen Container-Aktionen. Das von ihnen geforderte „Essen-retten-Gesetz“ gibt es noch nicht, die Straffreiheit fürs Containern wird immerhin parlamentarisch diskutiert. Eine Online-Petition an den Bundestag, die Sirplus mit dem Ziel initiiert hat, Lebensmittel mit einem abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatum mit null Prozent zu besteuern, fand innerhalb von zwei Monaten nur 2.560 Unterstützer. Die Mühen der Ebene sind eben unsexy. ■
„Containern ist bei uns
nicht nötig“
Nicole Korset-Ristic
Vorständin Verkauf & Immobilien Bio Company SE und Vizepräsidentin IHK Berlin
BW: Die Bio Company ist regionaler Markt- führer im Bio-Lebensmitteleinzelhandel. Was tun Sie gegen Verschwendung?
Nicole Korset-Ristic: Wir konnten bereits zahlreiche Tonnen Lebensmittel retten. Bereits 2012 waren wir Gründungspartner der Initiative Foodsharing. Zur Optimierung der Bestellungen haben wir ein Mehrstufensys- tem eingeführt, sodass nicht mehr allzu viel Ware übrig bleiben kann. Auch bieten wir Lebensmittel kurz vor Ablauf des Mindest- haltbarkeitsdatums preisreduziert an, sodass ein guter Teil noch erworben werden kann.
Wo sehen Sie noch regulatorischen Nachbesserungsbedarf?
Aus unserer Sicht sollte das Retten von noch genießbaren Lebensmitteln aus Müllcon- tainern von Supermärkten entkriminalisiert werden. Bislang gilt dies als Ladendiebstahl. Bei uns landet nur noch das in der Tonne, was wirklich ungenießbar oder verdorben ist. Und das ist sehr wenig. Containern ist durch unseren bewussten Umgang mit Lebensmit- teln gar nicht mehr nötig, wir haben hier neue Wege gefunden.
Wie stehen Sie zur Idee, Handelsunter- nehmen zu verpflichten, abgelaufene Lebens- mittel zu spenden?
Das würden wir begrüßen. Es würde die gemeinwohlorientierte Idee fördern und letztlich auch eine Wertschätzung gegenüber den Produzenten von Lebensmitteln mit sich bringen. ■
76%
der Befragten
einer aktuellen Online-Abstimmung der „Berliner Woche“ stimmten der Frage zu: „Sollten Supermärkte verpflichtet werden, verwertbare Lebens- mittel zu spenden?“
Berliner Wirtschaft 04 | 2023
Simone Blömer, IHK-Key Account Managerin Handel, Tourismus und Gastgewerbe
Tel.: 030 / 315 10-432 simone.bloemer@ berlin.ihk.de
FOTOS: GETTY IMAGES/VIEW STOCK, HELMUT BIESS