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MARITIME SICHERHEITSPOLITIK
Die Ostsee im Rahmen der Großmachtkonkurrenz
Julian Pawlak*
Vor über sechs Jahren sorgten der Krieg in der Ukraine und die Annexion der Krim durch Russland für eine Zäsur, wel- che das Bewusstsein über die Relevanz von Landes- und Bünd- nisverteidigung zurück auf die sicherheitspolitische Tagesord- nung der europäischen Hauptstädte katapultierte. Die Aus- wirkungen dessen werden im Ostseeraum deutlich durch die Nato-Rückversicherung der östlichen Bündnispartner (z.B. durch die Enhanced Forward Presence, EFP) oder die erhöhte Aufmerksamkeit für maritim geprägte Manöver wie Baltops – auch in Zeiten der Covid-19-Pandemie. Maritim-strategische Überlegungen in der Ostseeregion beinhalten jedoch mehr als das Sicherstellen von Versorgungswegen (Sea Lanes of Com- munication, SLOCs) nach Klaipeda, Riga und Tallinn. Auch in den Jahren nach 2014 sind signifikante Entwicklungen in der Sicherheitspolitik zu verzeichnen. Hervorzuheben sind unter anderem die Auswirkungen eines neu aufgeflammten, glo- balen Großmachtwettbewerbs (great power competition), in diesem Fall vorrangig zwischen den Vereinigten Staaten und Russland. Drei Beispiele:
1. Die USA haben im Sommer 2019 den INF-Vertrag (Interme- diate Range Nuclear Forces) zur Abschaffung landgestütz- ter, nuklearfähiger Raketen und Marschflugkörper mit kurzer und mittlerer Reichweite (500 bis 5.500 km) aufgekündigt. Begründet wurde dies mit Vorwürfen, Russland würde mit seinen Entwicklungen von Waffensystemen und entspre- chenden Stationierungen von Marschflugkörpern gegen diesen Vertrag verstoßen. Dies wird von Moskau bestritten.
2. Ebenfalls kündigten die USA im Mai 2020 an, aus dem Open Skies-Vertrag auszutreten. Getreu dem Motto „ein offe- ner Himmel von Vancouver nach Wladiwostok“ gilt die- ses Abkommen als eine der signifikantesten vertrauensbil- denden Maßnahme zwischen Nato
und ehemaligen Staaten des War- schauer Paktes. Es erlaubt den Ver- tragspartnern die Aufnahme von Luftbildern im Rahmen von gegen- seitigen Überflügen über ihren Ter- ritorien. Auch vor dieser Ankündi- gung wurden der russischen Seite mehrfach Ungereimtheiten vorge- worfen.
3. Schließlich steht das Auslaufen von New START (Strategic Arms Reduc- tion Treaty) im Raum. Der 2010 geschlossene Vertrag behandelt die Begrenzung der Gefechtsköpfe
und strategischer Trägersysteme für Nuklearwaffen beider Staaten. Das Rüstungskontrollabkommen steht in der Tra- dition seiner Vorgänger START I & II. Russische wie ameri- kanische Positionen sind in diesem Rahmen derzeit noch zu verschieden, um eine Verlängerung (spätestens 2021) realistisch wirken zu lassen.
Diese drei Fälle sind beispielhaft für die Großmachtkonkurrenz der beiden Staaten und werfen ihre Schatten unmittelbar auf Europa, den Ostseeraum und die Bundesrepublik. Während der Open Skies-Vertrag grundsätzlich einen Vertrauensnach- weis der Vertragsparteien widerspiegelt, behandeln die beiden weiteren Abkommen ganz konkrete militärische Risiken für die Region. Der aufgekündigte INF-Vertrag eröffnet den russischen Streitkräften die Möglichkeit, nuklearfähige Waffensysteme auf legale Weise zu stationieren, die nunmehr auch von Land aus weit nach Westeuropa wirken können. Ein etwaiges Auslaufen von New START wiederum könnte einen neuen Rüstungswett- lauf auf der nuklearen Ebene zur Folge haben. Diese Entwicklun- gen müssen miteinbezogen werden, wird über die heutige sicher- heitspolitische Realität im Ostseeraum gesprochen. Die Region ist kein separates Operationsgebiet ohne jedweden äußerlichen Einfluss. Es wird klar: die Auswirkungen des Großmachtwettbe- werbs und der Auflösungen der genannten Verträge sind in allen Staaten der Region spürbar. Die Ostsee als Teil eines weiten, stra- tegischen Raumes der „Nordflanke“ zu erkennen, ist dahingehend ein richtiger Schritt, um der Komplexität heutiger sicherheitspo- litischer Herausforderungen näherzukommen.
* Julian Pawlak ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Maritime Strategy & Security des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK).
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