Page 170 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 170
E. Meumann.
158
ersten Lebensjahres, bisweilen auch etwas später, hervor. Die An-
gaben der Sprachstatistiker weichen zwar in der Bestimmung der
Zeit und der Zahl der ersten Worte sehr von einander ab. Während
die amerikanischen Statistiker am Ende des zwölften Monates vielfach
schon den Besitz von acht, zehn und mehr Worten verzeichnen
(Tracy), sind im Durchschnitt die deutschen Kinder, denen gegen-
über die amerikanischen überhaupt als etwas frühreif erscheinen, in
dieser Zeit nur im Besitz ganz vereinzelter wortähnlicher Aeußerungen.
Jedenfalls aber beginnt die Sprache in einer Zeit, in der das Blind
körperlich und geistig noch in hohem Maße unentwickelt ist. Die
Entwicklung, die es bis dahin durchlaufen hat, kommt natürlich für
die richtige Deutung seiner ersten sprachlichen Aeußerungen sehr
wesentlich in Betracht. Aber auch sie wird sehr verschieden aufgefasst.
Ich überblicke diese Entwicklung nur soweit sie für die Behand-
lung meines Problems in Betracht kommt. Wir werden dabei vor
allen Dingen die Vorbedingungen und die Vorstufen der kind-
lichen Sprachentwicklung zu trennen haben. Vorbedingungen der
Sprachentwicklung sind alle diejenigen, welche das Kind erfüllen
muss, um die schwierige Leistung der ersten Anfänge des sinnvollen
Sprechens vollbringen zu können. Diese besteht darin, dass articulirte
Laute und Lautcomplexe dem Kinde Zeichen für einen geistigen
Inhalt werden (Sprachverständniss) und von ihm verwendet werden,
um diesen geistigen Inhalt auszudrücken, mitzutheilen und zu be-
zeichnen. Ich deute in diesem Satze an, dass die Function der
Sprache eine dreifache ist. Sie ist Ausdruck, Mittheilung und Be-
zeichnung. Für den Erwachsenen mögen sich in der Regel Aus-
druck, Mittheilung und Bezeichnung decken, beim Kinde ist das
anfangs nicht der Fall, es trennen sich bei ihm die drei Functionen
der Sprache. Sie kann z. B. bloß Ausdruck eines Gemüthserlebnisses
sein, ohne dass der Mittheilungstrieb sich damit verbindet. Und sie
kann Bezeichnung sein, ohne dass eine eigentliche Mittheilung
erstrebt ward. Jede dieser drei Functionen der Sprache muss das
Kind erst erlernen: es muss lernen, was Ausdruck, Mittheilung und
Bezeichnung ist. Welche Vorbedingungen muss der kindHche G-eist
und der kindliche Organismus erfüllen, wenn es mit den einfachsten
lautlichen Mitteln in diesem Sinne Sprache verstehen und verwenden
soll? Es muss, kurz gesagt, eine vierfache Entwicklung durchlaufen