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AUF D ER ZUN GE
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Der Geschmack
der Kindheit
Liebesäpfel auf dem Weihnachtsmarkt, Vanillekipferl in
der Küche: Jetzt ist die Zeit, in der süßer Genuss zelebriert
wird und wir die Essgewohnheiten unserer Familie feiern.
Gut so. Denn das setzt viele positive Emotionen frei.
TEXT Katharina Wantoch
E in unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein
bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte
mich durchströmt. (…) Und dann mit einem Male war die
Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine,
die mir am Sonntagmorgen in Combray (…) meine Tante
Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder
Linden blütentee getaucht hatte“, schrieb Marcel Proust.
Im ersten Band seines Romans „Auf der Suche nach der ver-
lorenen Zeit“ wird der Protagonist durch den Genuss des
Gebäcks in seine Kindheit zurückversetzt.
Marcel Proust hat damit nicht nur große Literatur
geschaffen, sondern auch einem psychologischen Phäno-
men den Namen gegeben. Vom Proust-Effekt, wegen des
beteiligten Gebäcks auch Madeleine-Effekt genannt, spricht
man, wenn ein Geschmack oder Geruch unwillkürlich Erin-
nerungen oder Emotionen hervorruft. „Erfahrungen (…)
setzen sich im Gedächtnis fest, gerade wenn sie mit Gefüh-
len aufgeladen sind. Und diese Gedächtnisspuren tauchen
wieder auf, wenn wir heute die Nahrung essen, die wir
damals gegessen haben, oder vielleicht auch schon, wenn
wir sie uns nur vorstellen“, erklärt der Psychologe Michael
Macht in seinem Buch „Hunger, Frust und Schokolade“.
Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass die Regio-
nen im Gehirn, in denen Geschmacksrichtungen und Gerü-
che verarbeitet werden, eng mit den Hirnarealen verbunden
sind, die für unser Gedächtnis und unsere Emotionen
zuständig sind – deshalb können Geschmäcker und Gerüche
so viel in unserem Gehirn auslösen.
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