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AUF D ER ZUN GE
Ein Prost auf uns und
die Zeit miteinander:
An den Festtagen neh-
men wir uns endlich
mal Zeit, das Wir-Sein
zu genießen und den
Moment auszukosten
Die Zunge ist quasi unser zweites Gedächtnis. Von klein auf
dient sie uns als Erinnerungsspeicher, schließlich spielt das
orale Erleben auch von Anfang an eine große Rolle, wie der
Soziologe Tilman Allert in seinem Buch „Der Mund
ist aufgegangen. Vom Geschmack der Kindheit“
darlegt. „Er (der Mund) gehört zu den ersten
Instanzen, die die Welt der Erscheinungen
erschließen“, schreibt er. „Das orale
Gedächtnis bewahrt die Erinnerung an eine
Zeit, als das Kosten Empfindungen auslöste,
lange vor jeder sortierenden Erkenntnis.“
Gerade jetzt in der Weihnachtszeit mit all
ihren duftenden Köstlichkeiten wird unser
Geschmacks- und Geruchsgedächtnis beson-
ders getriggert. Wir essen Plätzchen und
­ reisen per Proust-Express in die Küche unse-
res Elternhauses zurück, wo wir während der
Weihnachtsbäckerei in unbeobachteten
Momenten vom Teig naschen oder gebannt
vorm Ofen sitzen, um den Keksen beim Bräunen zuzusehen
und ihren Duft zu inhalieren. Wir trinken Punsch und füh-
len uns gedanklich zurückversetzt auf den Weihnachts-
markt unserer Kindheit, ein einziges süßes Erlebnis, weil in
der Adventszeit schon immer andere Naschregeln galten.
Warmes Vanillegefühl
Für Kinder ist Weihnachten eng verbunden mit positiven
Emotionen wie Vorfreude und Aufregung (Geschenke!) –
und meist mit einem Gefühl, das wir auch später noch mit
dem traditionellen Fest assoziieren: Geborgenheit. Und die
entsteht eben nicht nur dadurch, dass wir mit geliebten
Menschen zusammen feiern, dass wir Kerzen anzünden
oder gemeinsam Weihnachtslieder singen, sie entsteht auch
„Essen und Gefühle
können sich gegenseitig
beeinflussen.“
Psychologieprofessorin
Christina Bermeitinger
auf der Geschmacksebene. „Essen und Gefühle können sich
gegenseitig beeinflussen. Wenn wir etwas essen, verändert
sich unser Gefühlszustand. Essen ist mit Bedürfnisbefriedi-
gung verbunden und führt oft generell zu einem wohli-
gen, guten, entspannten Gefühl“, sagt die Psycho-
logieprofessorin Christina Bermeitinger. Unter
ihrer und der Leitung von Kochfachlehrer Lasse
Althaus entwickelten Studierende der Psycho-
logie an der Universität Hildesheim gemeinsam
mit angehenden Köchinnen und Köchen das
„Kochbuch der Gefühle“. Zu 15 verschiedenen
Gefühlen werden darin jeweils fünf bis sechs
Rezepte serviert. Unter Geborgenheit findet
man zwar – vom Bratapfel mal abgesehen –
keine klassischen Weihnachtsgerichte, aber
Zutaten wie Vanille, Nelke, Muskatnuss,
Zimt, Kakao, Marzipan oder Nüsse. Lauter
Gewürze und Lebensmittel, die für uns nach
Weihnachten schmecken, eben weil sie so
ein wohlig-warmes Gefühl von Geborgenheit auslösen.
Klassiker als Anker
Wer sich geborgen fühlt, fühlt sich sicher. Die Erinnerungen,
die Gänsebraten, Rotkohl, Klöße oder Bratäpfel hervorrufen,
tun also auch deshalb so gut, weil sie mit einer wohlbehüte-
ten Zeit verknüpft sind. Im Strudel unserer schnelllebigen,
krisengeschüttelten Gegenwart funktioniert das traditio-
nelle Weihnachtsessen wie ein Anker. Es nährt uns schon
allein durch die Kraft des Rituals: „Alle Jahre wieder Würst-
chen mit Kartoffelsalat.“ Oder eben Geflügel. Oder Fondue.
Oder Karpfen. Ganz unabhängig davon, welches der persön-
liche Weihnachtsklassiker ist, gilt: Wir nehmen uns Zeit
zum gemeinsamen Speisen, wo wir sonst häufig wie
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