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Didaktisch betrachtet, bedeutet An- fängerunterricht im Schach haupt- sächlich die Vermittlung grundlegender Schachideen. Das Studium der Ideen- geschichte des Schachs kann so gese- hen für jeden Schachlehrer eine Hilfe sein, um sich besser in die Probleme von Lernenden hineinzuversetzen, und sollte ein wesentlicher Bestandteil der Trainerausbildung sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf den Begriff des „algorithmi- schen Motivs“ hinweisen, den ich im oben erwähnten Artikel am nächsten Beispiel erläutert habe:
XABCDEFGHY 8 +Q+ + +( 7+K+ + + ' 6 + + + +& 5+ + + + % 4 + + + +$ 3+ + + + # 2 + +pmk +" 1+ + + + ! xabcdefghy
Ein ausgebildeter Spieler sieht in der Ausgangsstellung „auf einen Blick“, wie sich das Spiel entwickeln muss, weil der Spielverlauf einem leicht zu lernenden Algorithmus folgt, der im Langzeitge- dächtnis abgespeichert ist. Weiß muss den schwarzen König mittels geschick- ter Manöver der Dame wiederholt vor den Bauer zwingen, um jeweils ein Tem- po für die Annäherung seines Königs zu gewinnen. Vor einigen Jahren habe ich vorgeschlagen, die Ausgangsstellung (und vergleichbare Situationen) als „al- gorithmisches Motiv“ zu bezeichnen. Auch dazu möchte ich eine einfache De- finition vorschlagen, mit der ich gute Er- fahrungen gemacht habe:
Die Anordnung kann jeder auf dem Schachbrett sehen, weil sie konkret ist, aber sie wird erst dann zum Mo- tiv, wenn auch der Zusammenhang im schachlichen Abbild im Kopf des Spie- lers erkannt wird.
Viele Schachideen im Endspiel sind im Laufe der Geschichte zu algorithmischen Motiven kondensiert, die heute jeder Anfänger lernt und leicht abrufbar im Langzeitgedächtnis speichert. Die bei- den Diagramme oben sind Beispiele dafür. Zum Ende dieser Einführung gebe ich noch ein Zitat des großen Ju- rij Averbach (95), der nicht nur als End- spielautor, sondern auch als Schachhis- toriker Herausragendes geleistet hat:
schachgeschichte
„Die Geschichte eines so alter- tümlichen Spiels wie Schach ist nicht nur die Geschichte des Spiels an sich, sondern gleichzei- tig die Geschichte der Entwick- lung menschlicher Ideen und menschlicher Denkweisen. Deshalb ist es so wichtig, die Phasen der Historie des Spiels zu untersuchen, in denen diese Entwicklung am deutlichsten zu erkennen ist.“
(aus dem Englischen übersetzt von Harry Schaack).
Aus „Scacchia Ludus“ – Studien zur Schachgeschichte, Band 1, S. 50, Hrsg. Hans Holländer und Ulrich Schädler Editions feenschach (2008).
1. Schach in Indien
Überwiegend wird heute Indien als das Ursprungsland des Schachspiels ange- sehen. Unumstritten ist diese These nicht. So vertritt der bekannte Schach- sammler und langjährige Vorsitzende von Chess Collecters International, Dr. Thomas Thomsen, die Meinung, dass nicht Indien, sondern Persien das Ur- sprungsland sei.
Mir gegenüber hat er das damit begrün- det, dass in Indien bisher keine antiken SchachfigurenausderinFragekommen- den Zeit gefunden worden seien.
Etwas mehr Aufklärung in dieser Frage erhoffte ich mir von einem relativ neuen Buch, das 2014 in Indien gedruckt wur- de und einen vielversprechenden Titel mit einer konkreten Jahresangabe ent- hält (Abbildung).
Schach in Indien - bereits 570 n. Chr.
Es stellt sich jedoch heraus, dass die Angabe 570 n. Chr. als Zeitpunkt der Entstehung des Schachspiels im Gan- ges-Tal in Indien vom führenden briti- schen Schachhistoriker Murray stammt und bereits 1913 in dessen Monumen- talwerk „A History of Chess“ publiziert wurde. Sehr bekannt ist eine Geschich- tedespersischenDichtersFirdausi(940- 1020) über den Besuch einer indischen Delegation, die dem persischen König ein Schachspiel zusammen mit der Auf- gabe überbrachte, die Regeln des Spiels zu erraten, was bekanntlich gelang. Diese Geschichte hat vermutlich einen wahren Kern und beruht auf einer viel älteren Quelle (Wikipedia, „Geschichte des Schachspiels“). Ihre Handlung spielt sehr wahrscheinlich in der Zeit zwischen 565 und 579, in der sich die Regierungs- zeiten der beiden beteiligten Herrscher aus Indien (560-585) und Persien (531- 579) überlappten.
Die klassische Schachforschung des 19. Jahrhunderts (Forbes, Antonius Van der Linde, von der Lasa und schließlich Murray) ging anfänglich davon aus, dass das Schachspiel in Indien entstanden sei und sich allmählich aus dem mit Würfeln auf einem ungefärbten 8×8-Brett gespielten Rennspiel namens Ashtapada über ein mögliches Pro- toschach zum anfänglich zu viert und später zu zweit gespielten Chaturanga entwickelte. Das Chaturanga gelang- te demnach ins Perserreich und wur- de phonetisch zu Chatrang angepasst.
“Ein Motiv ist eine Anordnung von Steinen und Feldern auf dem Schachbrett, zwischen de- nen ein anregender Zusammen- hang erkannt wird.”
MAI 2017
ROCHADE EUROPA
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