Page 147 - Geschichte des Kostüms
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                                            FRANKREICH


               MITTE DER ZWEITEN HÄLFTE DES                                18. JAHRHUNDERTS












                       Die beiden Darstellungen unterscheiden sich von denen der vorhergehenden Tafel
               nicht allein stofflich, indem sie aus der Sphäre der hauptstädtischen Lebewelt auf das Land
               und in gesunde Luft hinausführen. Auch der von England herüberkommende Ein-
               fluß auf Frankreich zeigt sich in beiden. Auf dem ersten Blatt, gestochen von Delignon,
               besucht der Grundherr, der adlige Seigneur, einen seiner Pächter. Wird dies zwar auch in
               früheren Zeiten geschehen sein, so verdeutlicht die dargestellte Szene jenen Zug des
               sozialen Wohlwollens und des Familiären, der die Zeitspanne zwischen dem Regime
               Ludwigs XV. und der Revolution         charakterisiert, ohne doch zu einem eigentlichen
               Umschwung der Zustände kräftig genug zu sein und dadurch deren baldigen Umsturz
               aufzuhalten. Man verliebt sich platonisch in eine Gesinnung der Bürgerlichkeit, Ein-
               fachheit und Natürlichkeit, sieht solche Motive sehr gerne sentimentalisierend dargestellt
               und  liest, wie in Deutschland auch, die Übersetzungen der englischen Romane,            die
               sich in solchen Schilderungen und Verhältnissen bewegen, von Goldsmith, Richardson
               und anderen.
                       Der Standesunterschied des aristokratischen jungen Paares und der Pächterfamilie
               prägt sich auch in der Kleidung aus.     Bei den weiblichen Personen der Pächterfamilie
               zeigen sich der Caraco und die große Haube. Während der junge Seigneur schon den
               modischen Einfluß der vornehmen englischen Landkreise offenbart, insbesondere durch
               die helle Reithose  in den Stulpstiefeln, hält sich der Pächter, nicht nur als bejahrterer
               Mann, sondern auch aus Standesgebühr an die ältere französische Tracht mit dem
               schwerschößigen Überrock, der langen Weste, den culottes, den Strümpfen und niederen
               Schuhen. Man erkennt auch aus diesem Beispiel, wie der Kostüm-Konservatismus der
               gutbäuerlichen Kreise nach und nach aus         einer gewesenen Mode ländliche Volks-
               trachten formt, am deutlichsten die des männlichen Teils. Im übrigen vergleiche man zu
               den dargestellten Kostümen das zu den Tafeln 221, 222 und 251 im Text Bemerkte.
                      Die Pferderennen (Abb. 2) gelangten in Frankreich erst 1806 zur tatsäch-
               lichen Einführung.    Die  hier vorliegende französische Darstellung der „Course des
               chevaux" gehört in die vorausgehende Periode der begonnenen Aufmerksamkeit für die
               englischen Sporte und Sitten. Mit der Revolution setzte sich auch der Eifer ihrer unmittel-
               baren Nachahmung in Frankreich durch.          Die Bewegungsspiele im Freien       auf dem
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