Page 147 - Geschichte des Kostüms
P. 147
236
FRANKREICH
MITTE DER ZWEITEN HÄLFTE DES 18. JAHRHUNDERTS
Die beiden Darstellungen unterscheiden sich von denen der vorhergehenden Tafel
nicht allein stofflich, indem sie aus der Sphäre der hauptstädtischen Lebewelt auf das Land
und in gesunde Luft hinausführen. Auch der von England herüberkommende Ein-
fluß auf Frankreich zeigt sich in beiden. Auf dem ersten Blatt, gestochen von Delignon,
besucht der Grundherr, der adlige Seigneur, einen seiner Pächter. Wird dies zwar auch in
früheren Zeiten geschehen sein, so verdeutlicht die dargestellte Szene jenen Zug des
sozialen Wohlwollens und des Familiären, der die Zeitspanne zwischen dem Regime
Ludwigs XV. und der Revolution charakterisiert, ohne doch zu einem eigentlichen
Umschwung der Zustände kräftig genug zu sein und dadurch deren baldigen Umsturz
aufzuhalten. Man verliebt sich platonisch in eine Gesinnung der Bürgerlichkeit, Ein-
fachheit und Natürlichkeit, sieht solche Motive sehr gerne sentimentalisierend dargestellt
und liest, wie in Deutschland auch, die Übersetzungen der englischen Romane, die
sich in solchen Schilderungen und Verhältnissen bewegen, von Goldsmith, Richardson
und anderen.
Der Standesunterschied des aristokratischen jungen Paares und der Pächterfamilie
prägt sich auch in der Kleidung aus. Bei den weiblichen Personen der Pächterfamilie
zeigen sich der Caraco und die große Haube. Während der junge Seigneur schon den
modischen Einfluß der vornehmen englischen Landkreise offenbart, insbesondere durch
die helle Reithose in den Stulpstiefeln, hält sich der Pächter, nicht nur als bejahrterer
Mann, sondern auch aus Standesgebühr an die ältere französische Tracht mit dem
schwerschößigen Überrock, der langen Weste, den culottes, den Strümpfen und niederen
Schuhen. Man erkennt auch aus diesem Beispiel, wie der Kostüm-Konservatismus der
gutbäuerlichen Kreise nach und nach aus einer gewesenen Mode ländliche Volks-
trachten formt, am deutlichsten die des männlichen Teils. Im übrigen vergleiche man zu
den dargestellten Kostümen das zu den Tafeln 221, 222 und 251 im Text Bemerkte.
Die Pferderennen (Abb. 2) gelangten in Frankreich erst 1806 zur tatsäch-
lichen Einführung. Die hier vorliegende französische Darstellung der „Course des
chevaux" gehört in die vorausgehende Periode der begonnenen Aufmerksamkeit für die
englischen Sporte und Sitten. Mit der Revolution setzte sich auch der Eifer ihrer unmittel-
baren Nachahmung in Frankreich durch. Die Bewegungsspiele im Freien auf dem