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RUBRIK
Prozent der Russen. Tendenz: stark steigend. Denn der Kreml
scheint zu den notwendigen institutionellen und strukturellen
Reformen nicht bereit zu sein.
Putin setzt auf Staatswirtschaft statt auf Mittelstand und
Unternehmertum. Und so sind vor allem die Saläre der Beam-
ten und der Bediensteten von Staatskonzernen wie Gazprom,
Rosneft und Sberbank deutlich gestiegen. Sodass heute Staats-
diener die Lieblingsberufsangabe jünger Schüler zwischen Ka-
liningrad und Kamtschatka ist - statt früher „Bisnesmen“, also
Unternehmer.
Der Meister und sein treuer Vasall: Vladimir Putin und
Sergei Lavrov.
DER VERFASSUNGSTRICK DES ZAREN
Niemand glaubte ernsthaft, dass Putin nach dem verfas-
sungsmässig endgültigen Ende seiner letzten und vierten China.
Amtszeit im Jahr 2024 tatsächlich zurückziehen würde. Si-
cher heckte er schon seit seiner erneuten Wahl 2018 Verfas- ABRAKADABRA – PUTINS MACHTERHALT IST
sungstricks aus, um sich länger an der Macht zu halten. GESICHERT
Eine grosse Mehrheit der russischen Bürger hat 2020 in einer
Putin, so viel ist klar, wenn man ihn seit Jahrzehnten beobach- Volksabstimmung für zahlreiche Verfassungsänderungen ge-
tet, hat sich immer wieder gehäutet. Nur seinen Machtwillen stimmt. Präsident Wladimir Putin hat damit erreicht, was er
und seinen Zynismus hat er sich erhalten. wollte: Er könnte jetzt bis 2036 im Amt bleiben. Gut 110
Millionen Wahlberechtigte konnten ihre Stimme zur Verfas-
Es ist fast schon genial, was Putin aus einem Land mit der sungsänderung aus Putins Feder abgeben. Putin versprach
Wirtschaftskraft, die kleiner ist als Italiens oder Südkoreas, grosszügig Reformen und höhere Sozialausgaben, zudem sei
geopolitisch gemacht hat. Aber dies geschieht um den Preis seine Arbeit für das Land noch nicht fertig. – Seine Gegner
der inneren Destabilisierung. Atomunfällen, wie zuletzt an sprachen von einem Staatsstreich. Schon im Januar hat-
zwei Orten, gewaltigen Naturkatastrophen, wie den derzeit te Putin alles fertig eingefädelt, um seine Machtposition zu
riesigen Waldbränden in Sibirien oder der dominierenden sichern, überall wurde sein Umfeld nach und nach auf den
Abhängigkeit von der Rohstoffkonjunktur, ist das Land wei- Coup eingeschworen. Per Verfassungsänderung erreichte er
ter schutzlos ausgeliefert. Den demografischen Niedergang nun , dass er nach 2024 erneut zur Wahl antreten kann.
durch Überalterung beschleunigt zudem die millionenfache Die Verfassungsänderungen geben nun dem übermächtigen
Übersiedlung junger Russen in den Westen, die in ihrer Hei- Putin, auch als amtierender Präsident, das Recht, bei Wahlen
mat weder Meinungs- noch unternehmerische Freiheit sehen. weiterhin antreten zu dürfen und bis 2036 zu regieren. Nicht
einmal Josef Stalin hatte die Sowjetunion so lange regiert.
Vor allem die generationengestaltende Herausforderung
der Moderne hat Putin bisher keineswegs gemeistert: Russ- Weil die Mehrheit der 110 Millionen Wahlberechtigten die
land ist weit davon entfernt, wieder zu einer technologischen in grossen Teilen umgeschriebene Verfassung guthiess, trat
Macht zu werden, wie es – bei allen sonstigen Mängeln – die sie in der neuen Form umgehend in Kraft. Der Präsident,
Sowjetunion einst war und kluge Köpfe in einem heutigen der die ihm enorm wichtige Abstimmung trotz Corona-Pan-
Russland erst recht erschaffen könnten. Und durch die zuneh- demie und ökonomischer Krise angesetzt und durchgesetzt
mende Konfrontation mit dem Westen macht Putin Russland hatte, sieht sich in seinem Kurs bestätigt. Und er hat auch
mehr und mehr zum Juniorpartner einer neuen Weltmacht nichts gegen seinen Spitznamen: Der Zar.
Wladimir Putin, flankiert von zwei
sibirischen weissen Kranichen, steuerte
2012 einen motorisierten Drachen über
der Jamal-Halbinsel in Russland, um die
gefährdeten Kraniche in Gefangenschaft
zu ihrem Lebensraum zu führen.
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