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Geschichte
verlaufs ergab, dass die an Bord befind- lichen 28 Lkw und zehn Eisenbahnwag- gons trotz des schweren Wetters anschei- nend nur schlecht oder gar nicht gesichert waren. Deren Verrutschen trug mutmaß- lich erheblich zur Schlagseite und dem anschließenden Kentern bei.
Die Jan hEWEliusz verließ den Hafen von Swinemünde am Abend des 13. Januar 1993 mit zwei Stunden Verspätung um 22.30 Uhr. An Bord befanden sich 35 Pas- sagiere und 29 Besatzungsmitglieder. Bereits kurz nach Beginn der Reise tra- ten die ersten Schwierigkeiten auf. Weil
Rettungskräfte bergen einen Überlebenden der Katastrophe
Die am 14. Januar 1993 kieloben in der See treibende polnische Fähre etwa
15 sm vor Rügen
die Fähre Probleme mit der Stabilität hatte, verringerte die Schiffsführung die Geschwindigkeit, was aber eine schlech- tere Ruderwirkung zur Folge hatte. Über- dies versuchte die Besatzung vorschrifts- widrig durch Fluten der Ballasttanks dem Winddruck entgegenzuwirken und so die Stabilität des Schiffes zu erhöhen. Um 03.28 Uhr meldete die Mannschaft Prob- leme mit der Ladung. Rund eine Stunde später hatte die Fähre bereits 30 Grad Schlagseite, weshalb die Passagiere auf die Rettungsstationen befohlen wurden. Die Schlagseite nahm immer weiter zu, bis die Jan hEWEliusz um 05:12 Uhr rund 20 sm (etwa 24 km) vor Kap Arkona auf der Insel Rügen kenterte. Sie trieb noch meh- rere Stunden kieloben und sank schließ- lich gegen 11.00 Uhr rund 20 sm östlich der Halbinsel Jasmund auf Rügen. Hier liegt das Wrack bis heute.
Überlebende berichteten, dass sich die Fähre so schnell auf die Seite legte, dass es kaum möglich war, die Rettungs- boote auszusetzen. Die Wassertempera- tur betrug nur 2 °C, weshalb die wenigen Überlebenden bald an Unterkühlung lit- ten. Obgleich umgehend Notfallmaß- nahmen eingeleitet worden waren, dau- erte es, bis die Helfer mit der Bergung der Schiffbrüchigen beginnen konnten. Auf- grund von Unklarheiten bezüglich des Unglücksorts trafen die aus Parow bei
Stralsund und Dänemark herbeigerufe- nen Seenotrettungshubschrauber erst 90 Minuten nach dem Untergang ein. Letztlich überlebten nur neun Besatzungs- mitglieder die Katastrophe. Die übrigen Crewangehörigen, unter ihnen auch Kapi- tän Andrzej Ułasiewicz, ebenso wie die 35 Passagiere, zumeist Lkw-Fahrer, starben beim Untergang der Jan hEWEliusz. Ins- gesamt waren 55 Todesopfer aus acht Ländern – Polen, Schweden, Norwegen, Tschechien, Rumänien, Ungarn, Öster- reich und Jugoslawien – zu beklagen. Es konnten allerdings nur 37 Leichen gebor- gen werden.
Das Kentern der Jan hEWEliusz war der schwerste Seeunfall in der polnischen Geschichte. Die abschließende Untersu- chung des Seeamts Gdynia ergab 1999, dass die Fähre aufgrund der bekannten Stabilitätsprobleme und dem nur unzu- reichend ausgebesserten Schaden an der Heckklappe nicht seetüchtig gewesen war und daher nicht hätte auslaufen dür- fen. Doch auch ohne diese Beeinträchti- gungen hätte die Jan hEWEliusz angesichts der zu erwartenden Wetterbedingungen auf der freien Ostsee und der damit ver- bundenen Gefahren für das Schiff den Hafen nicht verlassen sollen. So war bei- spielsweise der Fährverkehr von Sassnitz auf Rügen nach Trelleborg in Schweden wegen des schlechten Wetters eingestellt worden.
Die Erinnerung an den Untergang der Jan hEWEliusz ist heute überschattet von der EstOnia-Katastrophe rund eineinhalb Jahre später. Am 28. September 1994 sank die estnische Ostseefähre EstO- nia auf der Fahrt nach Stockholm in der Nähe der finnischen Insel Utö. 852 Men- schen fanden dabei den Tod. Bis heute sind die Ursachen für dieses schwerste Schiffsunglück in der Ostsee seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ein- deutig geklärt. 7
Bei schwerer See und bis zu 5 m hohen Wellen war die Fähre am 14. Januar 1993 gekentert, 55 Menschen kamen ums Leben
Zitat
„Da bot sich dann wirklich das schlimmste Bild, weil die ganzen Rettungsinseln teil- weise noch voll mit Leichen waren, umgekippt, extrem weiße Körper leblos in der See – es war schon sehr schlimm. Was geht einem da durch den Kopf? Man muss da stark schlucken erstmal, dass man das verdauen kann, besonders als wir nach- her dann angefangen haben, die Leichen rauszufischen; es ist verdammt kein ange- nehmes Gefühl, tote Körper aus der See zu fischen. Wir haben es versucht noch mit den Lebenden, wir hatten einen, (...) der war auf der Schwelle zum Tod, und wir haben es nicht mehr geschafft. Das ist schon etwas, das man schwer verdaut.”
Carsten Oehne, SAR Hubschrauber-Copilot, im Interview mit der ARD, 1993
40 Leinen los! 4/2025
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