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MARITIME SICHERHEITSPOLITIK
Neue Maritime Sicherheitsstrategie der EU
Henrik Schilling*
Die Aussage des Hohen Vertreters der EU, Josep Borrell, zur Veröffentlichung der aktualisierten Maritimen Sicherheits- strategie der EU: „Die EU müsse lernen, sich in Zeiten geopoli-
tischer Spannungen auch auf See durchzusetzen.“, belegt die Ambitionen der neuen sicherheitspolitischen Ausrichtung der EU. Sie zeigt, dass Brüssel verstanden hat, dass seit der Veröffent- lichung der ersten Strategie 2014 völlig neue Rahmenbedingun- gen herrschen, an die sich die Union anpassen muss.
Die neue Strategie soll die Grundlage für diesen Lernprozess schaffen. Dabei sind einige Bereiche bereits seit 2014 und spä- testens durch den Aktionsplan 2018 bekannt. So liegt das Haupt- augenmerk weiterhin auf dem Schutz der maritimen Sicherheit der Mitgliedstaaten, die in höchstem Maße abhängig von freien und sicheren Seewegen sind. Die Zahlen und Statistiken dazu sind hinlänglich bekannt.
Weiterhin setzt die EU auf ihre Kernfähigkeit „Soft Power“, die sie in den letzten Jahren sukzessive und wie am Beispiel Atalanta zu sehen, durch einen umfassenden und sektor- übergreifenden Ansatz perfektioniert hat. Allerdings lässt sich bereits hier der Unterschied zur alten Strategie erkennen. Die EU möchte Nägel mit Köpfen machen – lag 2014 der Fokus noch auf nicht-staatlichen und sogenannten „low-end threats“ wie Piraterie, so zeichnet das Dokument vom März einen deutlich umstritteneren maritimen Raum. Gleich das erste strategische Ziel schreibt der EU eine deutlich aktivere Rolle auf See zu und an die Stelle mehr oder weniger konkreter Vorgaben zur Koope- ration, treten klare Zielsetzungen, wie die Etablierung einer jähr- lichen EU-Marineübung.
Kooperation ist dabei ein wichtiges Stichwort: Die 2021 eingeführ- ten Koordinierten Maritimen Präsenzen (CMP) bieten ein Forum zur freiwilligen Koordinierung von Marineeinsätzen der Mitglied- staaten. Nicht nur ergänzen sie damit maßgeblich den Fähigkei- tenkatalog der Union, sie ermöglichen es außerdem einer Koali- tion der Willigen, den komplizierten und zuweilen langwierigen bürokratischen Weg zur Mandatierung eines Marineeinsatzes durch die Union zu umschiffen. Die CMP im Golf von Guinea hat gezeigt, dass sicherheitspolitische Bedrohungen im maritimen Raum damit zeitnah und effektiv bekämpft werden können. Eine zweite CMP im westlichen Indischen Ozean wurde vergange- nes Jahr ins Leben gerufen und weitere sind derzeit in Planung. Problematisch bleibt dabei die Ambition der EU, auch in Über- see stärker aufzutreten. Durch die Verpflichtungen in unmittel- barer Nähe der Union, der veränderten Sicherheitslage durch den Krieg in der Ukraine und nicht zuletzt den Wegfall einer der fähigsten Marinen durch den EU-Austritt Großbritanniens, stel- len Einsätze in Übersee einen nicht zu unterschätzenden Kraft- akt dar. Nichtsdestotrotz ermutigt Brüssel, mit Frankreich als einem starken Treiber, die Mitgliedstaaten zu einer Auswei- tung ihrer Aktivitäten im Indopazifik. So lässt sich auch in der
Europäischen Indopazifik-Strategie von 2021 und dem Stra- tegischen Kompass von einer Ausweitung der Präsenz euro- päischer Marineeinheiten in dem Gebiet lesen. Inwiefern die Marinen der Mitgliedstaaten allerdings den Balanceakt stem- men, einerseits eben solche Einsätze in Übersee zu fahren und andererseits einen stärkeren Fokus auf die Landesverteidigung zu legen, bleibt abzuwarten. Die präsenter gewordene Vulne- rabilität Kritischer Infrastruktur und die Rückkehr zu verstärkter LV/BV zwingt die Marinen der Mitgliedstaaten bereits jetzt zu übermäßiger Belastung, wie am Beispiel Baltic Guards zu erken- nen war, als alle verfügbaren Einheiten der Deutschen Marine in See gestochen sind. Die russischen Aktivitäten in Nord- und Ostsee in den vergangenen Wochen lassen darauf hindeuten, dass dieses Thema in absehbarer Zeit kaum an Bedeutung ver- lieren wird.
Die sechs durch die neue Maritime Sicherheitsstrategie identi- fizierten strategischen Ziele versuchen daher genau diese Her- ausforderungen zu bewältigen. Sie zeugen von einem stärkeren Selbstbewusstsein der Union im Vergleich zu 2014 und stellen sich den Herausforderungen der Zeit. Vor allem hinsichtlich der maritimen Fähigkeiten der EU zeigt sich ein deutlich ambitio- nierteres Auftreten Brüssels. So soll die EU nicht nur ihre Akti- vitäten auf See intensivieren und verstärkt mit Partnern, wie der NATO kooperieren, sondern auch aktiv in die eigenen militäri- schen und „High-End“- Verteidigungsfähigkeiten investieren. Die Ziele sind klar: die EU möchte zur Machtprojektion auf, unter und über See fähig sein und damit ihren Stand als ernstzuneh- mender globaler sicherheitspolitischer Akteur weiter stärken. Zusätzlich zu den traditionellen Bedrohungen, sollen die Mit- gliedstaaten allerdings auch auf hybride und andere Heraus- forderungen vorbereitet sein. Dazu zählen nicht nur Cyberan- griffe und der Schutz Kritischer Infrastruktur, sondern auch die Bewältigung von Auswirkungen des Klimawandels. Ebenso und besonders relevant für die Nord- und Ostsee, soll die Zusam- menarbeit zur Bekämpfung von Altlasten im Meer auf europä- ischer Ebene gestärkt werden.
Leinen los! 6/2023 41
Foto: ISPK


































































































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