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MARITIME SICHERHEITSPOLITIK
Die Ostsee –
Geopolitik unter dem Brennglas
Entspannte Strandtage mit der Familie, kleine oder grö- ßere Fährüberfahrten zum Auftakt des Skandinavi- enurlaubs, ein Segeltörn in die „dänische Südsee“ oder
Strandspaziergänge bei stürmischem Herbstwetter – solche oder ähnliche Bilder sind oftmals die ersten Assoziationen zur Ostsee. Vielen erscheint sie als das ideale Freizeitmeer: nicht zu salzig, nicht zu stürmisch, nicht zu groß.
Oftmals übersehen wird dabei, dass die Ostsee immer auch sicherheitspolitischer Schauplatz war und ist. Ozeane ver- binden Menschen, Volkswirtschaften und Nationen oft über Tausende von Kilometern. Sie zwingen ihre Anrainer gewis- sermaßen in Nachbarschaftsverhältnisse und schaffen einen gemeinsamen Interessensraum, welcher im besten Fall zur Kooperation, oft aber auch zu Rivalitäten führt. All dies gilt ebenso für die Ostsee. Aufgrund ihrer geringen geographi- schen Größe verdichtet sie diese Aspekte jedoch und wird somit zum Brennglas der Geopolitik. Sicherheitspolitisch unterliegt sie dabei einem stetigen Wandel, welcher sich auch in den gewählten Begrifflichkeiten ausdrückt. Ein eben solcher Wandel wird von manch einem auch in dem Nato- Beitritt Schwedens und Finnlands gesehen. Schon liest man entsprechende Begriffe wie „Nato-Meer“ oder gar „Nato- Binnenmeer“.
So nachvollziehbar der Wunsch nach griffigen Überschriften und prägnanten Begriffen ist, so bergen sie doch die Gefahr der (übertriebenen) Vereinfachung und damit der Fehlinter- pretation beim Rezipienten.
Geographisch mag der Begriff Binnenmeer zutreffend sein: Die Ostsee ist ein weitgehend von Landmassen umschlossenes Meer, das über Meerengen an ein Rand-
meer (Nordsee) und über dieses an
den Ozean (Atlantik) angeschlos- sen ist – so weit, so korrekt. Im Nato-Kontext allerdings ist er irre- führend: Die Nato hat sich seit jeher bemüht, die Ostsee eben nicht als isoliertes Seegebiet verstanden zu wissen, sondern sicherheitspo- litisch als Teil des Nordflankenrau- mes (welcher sich über Nord- und Norwegensee bis in den Nordat- lantik erstreckt) und geopolitisch als Teil der global commons, des weltumspannenden Ozeansystems im Geltungsbereich des Seevölker- rechts. Der Begriff „Nato-Binnen- meer“ steht den sicherheits- und geopolitischen Interessen der Nato also diametral entgegen.
Ähnlich verhält es sich mit „Nato-Meer“: Ein Blick auf die Land- karte zeigt, dass mit dem Beitritt der beiden nordischen Staa- ten tatsächlich eine Lücke geschlossen wird. Bis auf die Exklave Kaliningrad und die Region Sankt Petersburg ganz im Osten werden absehbar alle Anrainer der Ostsee Mitglieder der Nato sein – warum also nicht „Nato-Meer“ schreiben? Der Begriff impliziert, dass sich die sicherheitspolitischen Voraussetzun- gen grundsätzlich zugunsten der Nato verändern. Genau dies ist jedoch nicht der Fall! Nachschub für das Baltikum kann nach wie vor nur über See in großem Maßstab herangeführt werden und diese Nachschublinien bleiben durch die russischen (land- gestützten) Systeme in Kaliningrad bedroht. Der Ukrainekrieg hat zudem gezeigt, dass Russland Belarus als Teil seines mili- tärischen Aufmarsch- und Operationsgebiets betrachtet, von dem aus es uneingeschränkt agieren kann – Kaliningrad erhält damit eine Art Hinterland. Auch kreuzen sich die russischen und westlichen Nachschublinien nach wie vor in der östlichen Ost- see. Der Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands bedeutet für das Bündnis den Gewinn strategischer Tiefe an der nördlichen Gegenküste. Diese ist von unschätzbarem Wert für Luftopera- tionen und den Einsatz von Flugkörpern bzw. deren Abwehr. Maritim-sicherheitspolitisch bedeutet der Beitritt Schwedens und Finnlands sicherlich ein Zugewinn an maritimen Fähigkei- ten und Expertise, jedoch keine grundlegende Neubewertung der Ostsee.
Die Beitritte markieren zweifelsfrei eine Zäsur nicht nur für die beiden Staaten, sondern auch für das Bündnis. Es sei dennoch davor gewarnt, darin einen geopolitischen Sieg des Westens
im Ostseeraum zu sehen.
Johannes Peters
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