Page 7 - BilD am Sonntag (+15.07.2018)
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Politik & Gesellschaft 07

 FORTSETZUNG VON SEITE 5  „Die Zukunft liegt
 So seh ich das   So seh ich das  Dieser Bürgermeister verleiht
 b Wohnen wird immer teurer. Ro-  in unseren Kindern.
 pertz: „Die Mieten steigen jetzt   Also stehen bei mir
 schon seit Jahren und erreichen   die Themen Bildung
 mittlerweile ein  Niveau,  das für   und Förderung von
 viele Mieter nicht mehr bezahlbar   seiner Stadt neuen Schwung
 ist.“ Für 2018 erwartet der Mieter-  Kindern und
 bund, dass die Mieten durch-  Jugendlichen ganz
 schnittlich um fünf Prozent gegen-  oben. Besonders
 über  2017  steigen.  In  den  Groß-
 städten wird sogar mit rund zehn   wichtig ist dabei   Mit viel Einsatz belebte der Mecklenburger Politiker Stefan Sternberg seinen Heimatort wieder.
 Prozent gerechnet.  Chancengleich  In der neuen BamS-Serie Geht doch! zeigen wir, wo in Deutschland bespielhaft Politik gemacht wird
 b Die 2015 von der Großen Koali-  heit für alle.“
 tion eingeführte Mietpreisbremse
 hat die Preissteigerung nicht ge-  Andreas Bache (41),   Wenn Bürgermeister Stefan
 stoppt. Eigentlich sollen Vermie-  Automobilkaufmann  Sternberg 2014 aus seinem Rat-  Stefan Sternberg (34,
 ter in besonders betrofenen Re-  haus  kam,  fühlte  er  sich  „wie   SPD) macht mit Tochter
 gionen bei einer Neuvermietung   in einer verlassenen Western-  Henny (10) ein Selfe
                vorm historischen
 höchstens zehn Prozent auf die   stadt“. Der Marktplatz – men-  Schützenhaus in
 ortsübliche Miete aufschlagen   schenleer. Genau wie viele der   Grabow. Der Bürger-
 dürfen. In der Praxis hat das bis-  „Die Altenpfege muss   „Mir geht es zum Glück gut.   Fachwerkgebäude.  meister hat das
 her kaum einen Efekt.  So seh ich das  marode Kulturzentrum
 Warum sind ausgerechnet   unbedingt reformiert   Aber viele meiner Bekannten   VON ANGELIKA HELLEMANN  restaurieren lassen
 diese Themen den Menschen   werden. Ich mache diese   in meinem Alter haben zu
 so wichtig?  wichtige Arbeit seit fast
 Der Psychologe Stephan Grüne-  wenig Geld. Also hätte ich   Der Bürgermeister von Grabow
 wald untersucht mit seinem rhein-  20 Jahren und fühle mich   gern das Thema Altersarmut   (Mecklenburg, 30 Autominuten süd-
 gold Institut seit Jahren den Ge-  wenig wertgeschätzt.  angesprochen. Für viele, die   lich von Schwerin) wusste: „Wenn
 mütszustand der Deutschen. „Wel-  Arbeitsbedingungen   ihr Leben lang geschuftet   wir uns jetzt nicht wehren, stirbt
 che Themen besonders wichtig   und Bezahlung sind   haben, ist es wirklich   unsere Stadt.“
 sind, ist vor allem eine emotiona-  Seit auch der Schlachter dicht-
 le Frage“, sagt Grünewald BamS.   einfach unterirdisch.“  bedrohlich.“  gemacht hatte, blieben die meis-
 „Das Thema Altersarmut ist so   Stefanie Rüdiger (44), Altenpfegerin  Joachim Trost (75), Pensionär  ten der 5700 Bürger der Innenstadt
 wichtig, weil es das Gefühl gibt,   fern, kauften am Stadtrand im Su-
 man rackert sich sein Leben lang   permarkt. Und so suchte Bürger-
 ab und am Ende reicht dann das   meister Sternberg selbst einen neu-
 Geld nicht. Wenn bezahlbarer   en Schlachter. Der alte Metzgermeis-
 Wohnraum fehlt, denken die Men-  ter gab sein Rezeptbuch an ihn wei-
 schen: Ich bin vollwertiges Mit-  ter. „Heute gibt es wieder die Bla-
 glied der Gesellschaft, kriege aber   So seh ich das  So seh ich das  senmettwurst. Das ist ein Stück Hei-
 keine Wohnung mehr. Da verletzt   mat. Kleine Städte überleben nur,
 der Staat seine Fürsorgepficht.“  wenn die Menschen ihre Identität
 Warum sind das dann nicht   kennen“, sagt Sternberg.
 die Themen, die öffentlich am   Vor sechs Jahren wurde der Sozi-
 meisten diskutiert werden?  aldemokrat mit 28 zum Bürgermeis-  wigslust-Parchim gewonnen. Als   Er vermisst Streit um die richti-
 Psychologe Grünewald: „Die Poli-  ter gewählt. Dem gelernten Kauf-  er beim Schlachter in der Schlan-  gen Themen. „Wenn es einen so
 tik reagiert bei Themen gern   mann ist klar: „Wir werden nie gegen   ge steht, gratulieren ihm mehrere   erbitterten Koalitionsstreit um Bil-
 über.“ Die Flüchtlingsdebatte sieht   Amazon und Zalando angehen kön-  Bürger. Sie alle sagen über Sternberg:   dungspolitik, Steuern, höhere Löh-
 er als eine Art Stellvertreter-Dis-  nen. Deshalb bauen wir den Markt-  „DER ist noch einer von uns . . .“ Den   ne für Pfegekräfte gegeben hätte,
 kussion. „Wenn ich das Gefühl ha-  platz zur Dienstleistungsdrehschei-  Nachsatz „. . . im Gegensatz zu den   könnten die meisten Menschen das
 be, im Hinblick auf Altersarmut,   be aus. Als Stadt gehen wir mit gu-  ganzen Bundespolitikern“, sagen   besser verstehen. Weil es ihren All-
 Bildung, Wohnraum und Co. nicht   „Ich fnde den Mindestlohn   tem Beispiel voran. Die gesamte Ver-  manche laut, aber alle denken ihn.  tag viel mehr berühren würde“, fn-
 wertgeschätzt zu werden, reagie-  lebensunwürdig. Das steht   waltung, die zum Großteil am Stadt-  „Der Politikfrust ist riesig“, sagt   det Sternberg. Kernthemen sind
 re ich allergisch, wenn Flüchtlin-  rand sitzt, siedeln wir am Markt-  Sternberg. „Wenn die Stammtischluft   für ihn Steuerentlastungen und das
 ge so viel Aufmerksamkeit und Zu-  bei mir ganz oben auf der   platz an.“  nicht stimmt, kann es nicht funk-  Lohngefüge. „Hier verdient manch
 wendung bekommen. Die Politik   Liste. Wer gut arbeitet, soll   Grabow gilt als Vorzeigekommune   tionieren.“  Und aktuell  stinke es   feißiger Familienvater 1200 Euro
 zieht daraus die falschen Schlüsse   auch gutes Geld verdienen.   beim bundesweiten Förderprojekt   gewaltig.   netto für 40 Stunden Wochenar-
 und diskutiert fast nur noch über   „Demografewerk-  „Wir sind   beitszeit. Wenn man dann sieht,
 Flüchtlinge. Würde sie dagegen   Die Realität sieht aber leider   statt“. Viele solcher   Neue  an einem   was andere verdienen, weiß man,
 das Wertschätzungsproblem lö-  ganz anders aus.“  Kleinstädte schrump-  Serie  Punkt,   dass da etwas nicht mehr stimmt.“
   fen oder werden zur  Geht doch!
 sen, würde sich auch die Flücht-  wo sich   Auch in Grabow leben Flücht-
 lingsdebatte entspannen.“  Torsten Engelbrecht (34), Einzelhandelskaufmann  reinen Schlafstadt.   viele   lingsfamilien. Und so wurde auch
 Was sind die größten Unter-  Grabow  kann  seine   Wo Politik funktioniert  Bürger  ab-  der Burkini (verhüllender Ganz-
 schiede zwischen den Partei-  Einwohnerzahl hal-  wenden. Al-  körperbadeanzug) im Schwimmun-
 Anhängern?  ten und lockt mit In-  Weit weg von Berlin: BamS trifft   lein  die-  terricht ein Thema. „Weil bei uns
 b Für Unions-Wähler sind gleiche   vestitionen in die In-  erfolgreiche Lokalpolitiker. Ist Ihr   ses  Schau-  im Waldbad Schwimmen mit T-
 Bildungschancen für alle Kinder   „Integration ist zurzeit mein Thema. Da muss die Politik noch   frastruktur Tausende   Bürgermeister oder Landrat auch   spiel um die   Shirts verboten ist, mussten wir
            ein Vorbild? Schreiben Sie an
 das Spitzenthema. Für SPD-An-  So seh ich das  viel mehr ran. Sonst ist unser friedliches Zusammenleben   Besucher an. Seit das   leserforum@bams.de  Flüchtlings-  den Menschen erst mal erklären,
 hänger ist es die Altersarmut. Für   bedroht.“  Blockheizkraftwerk   politik. Für   dass ein Burkini Badekleidung ist.   Sternberg redet
 Grünen-Anhänger der Umwelt-  das Wasser im Frei-  den Bürger   Dass Schülerinnen das anziehen   im Waldbad mit   Auf dem
 schutz. Für AfD- und FDP-Anhän-  Liliana Kiefer (34), Medienpädagogin  bad auf 21 Grad wärmt,   geht es doch gar nicht um Asylpo-  dürfen und es wichtig ist, dass auch   Schwimmmeister   Marktplatz
                                                      vorm
 ger steht der Kampf gegen Krimi-  stieg die Besucherzahl von 30 000   litik. Für den kommt an, dass da ein   diese Kinder schwimmen lernen.“   Detlef Hohl (53)  Rathaus
 nalität auf Platz eins. Bei den Lin-  auf 50 000 pro Saison. Selbst die Tri-  paar Personen nur für sich streiten.   Mit den ganzen Flüssen und Seen
 ken liegen Bildungschancen ganz   athleten aus der Landeshauptstadt   Dass ein Seehofer Innenminister   rund um Grabow ist das extrem
 knapp vor Altersarmut.  Schwerin kommen zum Training   bleibt und Merkel Kanzlerin. Die   wichtig.
 b Besonders große Unterschiede   „Ich denke, dass man   nach Grabow.    Leute wollen aber, dass Politik et-  Das größte Problem: Die Ver-  Der Bürgermeister am
 zeigen  sich beim  Kampf  gegen   So seh ich das  Sternberg lebt mit Ehefrau Cari-  was für sie tut, für ihr Leben, für ih-  einsamung der alten Menschen.   Schreibtisch in seinem   FOTOS: CHRISTOPH MICHAELIS, LARS BERG, GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO, IMAGO, S
 Kriminalität. 100 Prozent der AfD-  die gesamte Verwal-  na (44, Juristin), Sohn Friedrich (18)   re konkreten Alltagssorgen.“  Als Sternberg gerade einen Tag im   Amtszimmer
 Anhänger ist das Thema beson-  tung verschlanken   und Tochter Henny (10) mitten im   Sternberg hat dafür den „Amts-  Amt war, musste die Feuerwehr die
 ders wichtig. Unter den Grünen-  sollte. Egal was man   Ort. Da klingelt auch mal jemand   kümmerer“ eingeführt. „Wer ein   Wohnung einer 93-jährigen Frau
 Wählern sagen das nur 35 Prozent.  am Sonntagmorgen um halb acht   Problem hat, schreibt uns mit Na-  öfnen, die gestorben war, ohne dass
 b Auch  beim Thema Zuwande-  anfasst, es dauert zu   Sturm, weil in seiner Straße der Gul-  men auf unserer Internetseite unter   es jemand gemerkt hatte.
 rung begrenzen, das insgesamt auf   „Bezahlbarer Wohnraum ist   lange. Bauantragsver-  ly überläuft und ein Bürgermeister   der Rubrik Amtskümmerer direkt   Die Stadt Grabow entwickelt des-
 Platz 13 landet, sticht die AfD he-  kaum noch zu fnden. Das   fahren stehen zum   eben für alles verantwortlich ist.  an. Er hat die Garantie, dass sich die   halb neue Wohnprojekte. „Gerade
 raus. Für ihre Anhänger ist es das   ist gerade für junge Familien   Beispiel dem wirt-  Sternberg verdient 5800 brutto.   Verwaltung zügig kümmert und ihn   haben wir ein Fachwerkhaus sa-
 zweitwichtigste Thema (87 Pro-  schrecklich. Und viele kön-  „Gutes Geld, aber der Job ist mit   über alle Fortschritte informiert.“  niert, unten mit einer barrierefrei-
 zent). Unter Unions-Anhängern   schaftlichen Handeln   all den Sitzungen am Abend und   Bundespolitiker würden von den   en Seniorenwohnung, in der Mitte
 rangiert es dagegen nur auf Platz   nen sich kein Eigentum leis-  oft richtig im Weg.“  am Wochenende total familienun-  meisten Menschen „als die da oben“   eine Familienwohnung, oben ein
 14 mit 43 Prozent, unter SPD-An-  ten. Das sollte anders sein.“  freundlich.“ Lokalpolitik macht er   wahrgenommen. „Die Dienst wagen   Loft. Da wohnen dann drei Gene-
 hängern mit 34 Prozent sogar nur   Simon Hinz (22), selbstständiger   trotzdem gern. Gerade hat er die   und Personenschützer wirken ab-  rationen. Wenn Oma unten was
 auf Platz 18.  Lonny Müller (85), Rentnerin  Garten- und Landschaftsbauer  Wahl zum Landrat im Kreis Lud-  stoßend“, sagt Sternberg.  passiert, kriegt das jemand mit.“
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