Page 385 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Philosophie der Theologie.              373

     lichkeit.  Das ist kehre rein theoretische Vernunftidee, die für unser
     Handeln   kein Interesse hätte,  sondern  ein praktisches Ideal,  das
     sittliche Menschheitsideal,  das  schHeßlich jeder einzelnen sitthchen
     Handlung ihre Richtung zu gehen hat.
        Es  ist aher auch keine rein theoretische Vernunftidee,  bei der
     unser G-emüth nicht mitwirkte,  sondern ein ethisches Postulat des-
     selben.  Das Menschheitsideal  liegt in der Zukunft,  der wir zwar
     Wünsche und     Forderungen  entgegenbringen,  von  der  wir  aber
     schlechterdings nichts wissen können.  Forderungen sind begründete
     Wünsche, solche also, die ihr Recht auf gewisse Thatsachen der Er-
     fahrung stützen können.   Die Philosophie der oben genannten em-
     pirischen Wissenschaften hat zu beurtheilen, inwiefern die bisherige
     Erfahrung zum Postulat des Fortschritts der Menschheit zu jenem
     Ideal Anlass gibt.  Sie darf dem bisherigen Verlauf der menschlichen
     Entwicklung die Zuversicht entnehmen, dass in der Richtung auf das
     Menschheitsideal alle Entwicklung verläuft oder, wo sie in der Wirk-
     lichkeit abweichende Wege einschlägt, wenigstens in dieser Richtung
     verlaufen sollte.  Diese Zuversicht hat aber eben vielmehr die Be-
     deutung einer Forderung,  die einem subjectiven Gemüthsbedürfniss
     entgegenkommt, als einer nothwendigen Folgerung aus den objectiven
     Zeugnissen jener Wissenschaften.  Gewiss bieten die empirisch nach-
     weisbaren Entwicklungen des Gesammtgeistes Anfänge dar zu der
     postulirten Entwicklung  des  Menschheitsideals im Gesammtverlauf
     der Menschheitsgeschichte : es sind uns empirisch Verbindungen Vieler
     zu einem Ganzen gegeben, der Stammesverband,      die Familie, der
      Staat, die Gesellschaft, sogar die für gewisse allgemeinste Interessen
     sich ausbildende internationale Willensgemeinschaft der Culturvölker.
     Aber dass dies Gegebene das Normale, der Anfang des Idealen ist
     und die abweichende Entwicklung in der Wirklichkeit das Nichtsein-
     sollende, das  ist keine rein theoretische, sondern eine durch unser
     moralisches Gefühl mitgewirkte Erkenntniss.
         Ein Nebenerfolg der ethischen Forderung des sitthchen Mensch-
     heitsideals  ist  die Befriedigung des Glücksbedürfnisses des mensch-
     Hchen Gemüths.    Können wir uns doch    dieses Ideal vollkommener
     Willensgemeinschaft der ganzen Menschheit nur zugleich   als einen
     Zustand vollkommensten Glückes, weil vollkommensten Friedens und
      freiester Entfaltung aller mensclüichen Kräfte denken.
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