Page 386 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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374                         Karl Thieme.

           Dem Fortschritt der Menschheit zum sittlichen Ideal ordnet sich
       übrigens eine Entwicklung ein, zu deren Beurtheilung theilweise die
       Philosophie der Naturwissenschaften berufen  ist.  Alles geistige Ge-
       schehen  setzt physische Bedingungen und Hülfsmittel voraus.  Jene
       Verbindungen individueller Geister,  aus denen die Gesammtentwick-
       lung  des  geistigen Lebens hervorgeht,  bleiben  überall an Natur-
       bedingungen gebunden, und sie wirken ihrerseits wieder auf die Natur
       zurück, indem  die Naturkräfte der vereinten Energie menschlichen
       WoUens unterworfen werden.     Das Ideal  dieser Culturarbeit ,  das
       jenem inneren  sittlichen Ideal  entspricht,  ist  die  volle Herrschaft
       über die Erde,  die Umwandlung dieser Wohnstätte der Menschheit
       in  ein gewaltiges Organ  des  Geistes.  Die Naturphilosophie wehrt
       dem Gemüth,    ihr Widersprechendes  zu  der  empirischen Naturbe-
       herrschung hinzuzuträumen.
           Das sittliche Menschheitsideal wird von der Vernunft durch die
        »religiösen« Ideen ergänzt.  Sie muss zu ihm als der zur geistigen
       Entwicklung geforderten Folge den    adäquaten Grund   dieser Ent-
       wicklung hinzudenken, um ihr Einheitsbedürfniss zu befriedigen, das
       ihr gebietet,  die empirisch gegebenen Erkenntnisse mit ihren nicht
        gegebenen Voraussetzungen zu einem in sich geschlossenen System
       von Gründen und Folgen zusammenzufassen.       Zur Ergänzung des
        sittlichen Menschheitsideals wird die Vernunft aber auch durch ihre
       naturphilosophische  UnendHchkeitsidee bestimmt, durch  das Nach-
        denken über »den bestirnten Himmel über mir«.   Es fordert einen
       über  die Naturbedingungen  des Menschheitsideals hinausreichenden
       Naturzusammenhang und dieser macht es sehr unwahrscheinlich, dass
       jene  unsere  geistige Welt  die  Totalität  des  geistigen Seins über-
        haupt sei.
           Aber ein geistiger Grund,  der  unsere von der Erfahrung aus
        erreichbare Idee geistiger Entwicklung überschreitet,  ist nicht nur
        ein theoretisches, sondern zugleich ein praktisches Postulat.  Damit
        die naturphilosophischen Ideen der das Gemüth befriedigenden Geltung
       unsres sittlichen Menschheitsideals im Weltlauf nicht widersprechen,
        denkt  die Vernunft  die »religiösen« Ideen.  Mögen wir  es noch so
        weit bringen in der Herrschaft über  die Erde,  schließlich behalten
        die selbst der zu einer einzigen Gesammtpersönlichkeit verbundenen
        Menscliheit  unendlich  überlegenen  kosmischen Mächte  die  letzte
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