Page 484 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       Schwankungen dem Nullpunkt nähert. Da diese schwierigen Versuche
       nur größere Abschnitte der Schlafzeit betreffen können,  ist nicht zu
       erwarten, dass die kleineren Schwankungen in ihnen zum Ausdruck
       gelangen.  So  viel geht  schon aus den  dort mitgetheilten Zahlen
       hervor,  dass auch in der Zeit des Einschlafens  die Vertiefung des
       Schlafs nicht gleichmäßig, sondern anfangs langsam, dann schneller
       vor  sich geht.  Oft genug lässt sich erfahren,  dass wir nach dem
       ersten Eintritt des Schlafes wieder für kurze Zeit erwachen und dass
       dies Aufwachen  ebenfalls graduell verschieden sein kann,  bis zum
       partiellen oder völligen Eintritt des Situationsbewusstseins u.  s. w.
          Nach dem kurzen UeberbHck über     die somatischen Sensationen
       zur Zeit des Wachbewusstseins und  die präsomnischen Sensationen
       müssen wir noch nach deren Verhältniss zu. den Bewusstseinsvorgängen
       sogleich nach dem Eintritt des Schlafs fragen, die freilich oftmals auch
       als hypnagogische Hallucinationen bezeichnet worden sind.  Für sie
       wäre der Ausdruck »Schlummerbilder« oder auch »Frühträume« der
       geeignetste.  Gewöhnlich werden  sie von den Morgen- oder Spät-
       träumen, die das Gros des in der Litteratur niedergelegten Traum-
       materials  lieferten,  gar nicht besonders unterschieden.  Selten nur
       waren  sie Gegenstand besonderer Untersuchungen.
          Maury ließ sich einige Minuten nach dem Einschlafen wecken und
       schrieb dann seine Beobachtungen nieder. Seine Ansicht, dass es nöthig
       sei, von selten eines anderen Menschen den Eintritt des Selbstbewusst-
       seins beim Erwachen constatiren zu lassen , erweckt Widerspruch  ge-
                                                                   ;
       rade den üebergang der Desorientirung zum Situationsbewusstsein, den
       wir als den psychologisch schwerwiegendsten Unterschied zwischen Schlaf-
       und Wachbewusstsein ansehen möchten, kann selbstverständlich nur
       jeder an sich selbst beobachten.  Alle körperlichen Zeichen des Schlafs
       oder des "Wachens, Augenaufschlag, sonstige Muskelbewegungen, Ver-
       änderung des Athemtypus, sind in jener Hinsicht durchaus trügerisch.
       Das Verfahren Maury 's ist auch schon deswegen wenig empfehlens-
       werth, weil der von außen gesetzte Wachreiz gewöhnlich so intensiv
       ist,  dass  er  die nachherige Reproduction  der Vorstellungen  stört.
       Eine Reihe von Versuchen,  die  ich derart anstellte,  dass ich beim
       Einschlafen  alle 60 Secunden  ein schwaches Glockensignal ertönen
       ließ, hatte kein ermuthigendes Ergebniss, denn mehrfach zeigte sich
       auch hier eine Störung der Reproduction durch den peripheren Reiz,
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