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lefon wurde überwacht. 1938 und 1943 riefen alte politi- sche Freunde bei ihm an und baten ihn, eine Rede zu hal- ten. Zwar ergriff Roß 1943 am Grab seines ehemaligen politi- schen Weggefährtens, des eins- tigen Schulsenators Emil Krau- se, noch einmal öffentlich das Wort und würdigte – von der Polizei scharf beobachtet – die Leistungen des Verstorbenen. Aber beide Male rief die Gesta- po vorher bei ihm an und teilte ihm mit, er habe das Redema- nuskript vorzulegen und müs- se sich strikt an den Text hal- ten, sonst „brauche er gar nicht mehr nach Hause zu gehen.“
In der Siedlung Wensenbal- ken gab es kaum Außenkontak- te, denn die Familie hatte be- rechtigte Angst, vor allem Frau Frieda. Sie schärfte ihrem Sohn ein, auf jedes Wort zu achten. Auch verbot sie ihm Kontakt zu Personen, die in der Sied- lung als überzeugte Nazis gal- ten. Besonders delikat war die Tatsache, dass zwei Reichs- heimstätten weiter, also in un- mittelbarer Nachbarschaft, der Reichsleiter und Geschäftsfüh- rer des „Hamburger Tageblat- tes“, des rüdesten Organ der Hamburger NS-Propaganda, wohnte. Man grüßte sich auf der Straße.
Rudolf Roß starb nach lan- ger schwerer Krankheit am 16.Februar 1951. Die Trauer- rede hielt der damalige 1. Bür- germeister Max Brauer. Als 1948 der Dampfer „Bürger- meister Roß“ für die HADAG in den Dienst gestellt wurde, ehrte deren Vorsitzender, Dr. W.Dudek, den Namensgeber
Hildegund Bobsien: Frühgym- nastik für 200.000 Radiohörer.
mit den Worten: „Wir tra- gen damit nur einen kleinen Teil der Dankesschuld ab, die die Hansestadt Ham- burg ihrem alten Bürger- meister Rudolf Roß schul- det. Möge das neue Motor- schiff viele Jahre hindurch werktätige Männer und Frauen sicher durch Wind und Wetter zur Arbeitsstät- te und zurückbringen, zum Segen der Wirtschaft Ham- burgs, der Stadt, für die Ru- dolf Ross als kluger Volks- erzieher und weitblicken- der Staatsmann so erfolg- reich jahrzehntelang schuf
und wirkte.“
Die Häuser trotzen dem 2. We krieg
Der Beginn des 2. Weltkrieges und die folgenden Jahre hin- terließen tiefe und schmerzhaf- te Wunden im Zusammenleben der Siedlung. Es gab kaum eine Familie im Wensenbalken, die nicht den Tod eines oder meh- rerer Familienangehöriger zu beklagen hatte. Die Gedenkta- fel im Aufgang zur Aula ihrer alten Schule, dem Walddörfer Gymnasium, führt allein 13 Na- men von gefallenen Schülern auf, die in der Siedlung gebo- ren und aufgewachsen sind, so den des älteren Bruders Ernst
von Boy Gobert, Uwe Brunck- horst und die der beiden Söh- ne des Rezitators Karl Bark- mann. Jedoch die 109 Häu- ser der Siedlung standen wie eh und je. Die von Norden an- iegenden Bomberverbände hatten offenbar die roten Dä- cher als Orientierung für Ziele im Hafen und im Zentrum be- nutzt.
Die Siedler reagierten durch- aus unterschiedlich auf das Kriegsende und den Tod Hit- lers. Während im Haus Gobert dieser Anlaß mit mühsam durch die Schrecken des Krie- ges geretteten Sekt gefeiert wurde, hockte die Familie des unmittelbaren Nachbarn, eines Kapitäns zur See und nunmehr ehemaligen Gauamtsleiters in Tränen aufgelöst unter einem Bild des geliebten „Führers“.
Nachkriegszeit
Nach eisigen Wintern, Lebens- mittelknappheit und auch durch Flüchtlinge bedingte Wohnungsnot begann sich das Zusammenleben in der Sied- lung langsam wieder zu nor- malisieren. Über den unmittel- bar aufs Überleben gerichteten Kampf hinaus war man nun zu- nehmend auch an dem interes- siert, was in der Welt geschah. Das Leitmedium, das die Men-
Kinder der Familie Hansen, die nach ihrer Ausbombung von 1944 bis Dezember 1951 in einem der sieben sog. „Ley-Häuser“ wohn- ten, die auf der westlichen Seite der Steinreye bis in die 70er Jahre standen. Heute steht auf dem Gelände die Kita „Himmelblau“.
schen informierte und unter- hielt, war in jenen Tagen das Radio. Schalteten die Frühauf- steher unter den Siedlern, be- ginnend mit dem 13. Juli 1945, frühmorgens ihr Radiogerät an, so vernahmen sie eine ju- gendlich-frische Stimme, die sie aufforderte: „ Ja – machen Sie gleich mit ! Sie werden dann munter !“
Eine Wensenbalkenerin auf Sendung
Diese Stimme aber gehörte der Wensenbalkenerin Hildegund Bobsien (1921 – 2005). Frau Bobsien stammte aus einer Fa- milie von Heimstättern der ersten Stunde. Ihr Haus, eine klassische Hamburger Kaffee- mühle, lag dem Gobertschen Grundstück gegenüber. Seit- dem sie im Sommer 1945 zum ersten Mal auf Sendung gegan- gen war, entwickelte sie sich rasch zur „Vorturnerin der Na- tion“. Im Laufe der Jahre nah- men bis zu 200.000 Hörerin- nen und Hörer an ihrer „Früh- gymnastik“ mit Klavierbeglei- tung teil. Waschkörbeweise traf Fanpost für Frau Bobsien beim Sender in der Rothenbaum- chaussee ein, von denen man- che ganz nebenbei und unbe- absichtigt die schwierige sozi- ale Lage vieler Bewohner der jungen Bundesrepublik doku- mentierten. So klagte eine Frau Magdalene Hertel aus Lübeck im Dezember 1948: „Es ist mir unmöglich an der Frühgym-
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