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                                  NAH AM WASSER GEBAUT
„Nun heul doch nicht gleich“, bekam unsere Autorin in ihrer Kindheit oft gesagt. Geholfen hat es wenig. Heute ist sie sogar ganz froh über ihren Hang zum tränenreichen Ausdruck.
TEXT  Martina Wimmer ILLUSTRATION  Beth Walrond
Es soll Hollywoodgrößen geben, die dazu Augentropfen brauchen. Augentropfen! Das ringt mir ein müdes Lächeln ab. Sollte sich nicht vorher unvermittelt dieses drän-
gende Gefühl im Hals einstellen, das seinen Weg über meine Gesichtsmuskeln nach oben nimmt, dazu eine Enge in der Brust und das sichere Wissen: Jetzt passiert es wieder, ich bekomme feuchte Augen. Es braucht dazu nicht viel. „The Ship Song“ von Nick Cave zum Beispiel. Lief gerade im Radio, während ich mir die Zähne putzte. „Ist was?“, fragte mein Mann, weil mir eine Träne über die Backe lief. Nicht wirklich. Und gleichzeitig stürzt die Welt über mir zusammen. Wegen eines Liedes, das von der Liebe handelt. Ich denke an alle, die ich liebe und geliebt habe, an die, die nicht mehr bei mir sind oder mich verlassen werden, an Menschen, die ich gar nicht kenne oder nie richtig kennengelernt habe, und an diese ver- maledeite Netflix-Serie, in der sich zwei ewig nicht kriegen, und wenn es dann doch passiert, stirbt sie in der vorletzten Folge. Die letzte habe ich dann durchgeheult. Wenn ich mich einigermaßen wieder erholt habe, dann wird mir richtig elend, weil ich mich von meiner sentimentalen Duselei habe wegtragen lassen, wo es so vieles auf der Welt gibt, das derart finster und todtraurig ist, dass man ununterbrochen vor Glück strahlen sollte, wenn man ein Dach überm Kopf und einen guten Menschen an der Seite hat.
Ich komme aus Oberbayern, da gibt es für Exemplare wie mich einen Ausdruck, der in seiner Abfälligkeit das Wort „Heulsuse“ bei Weitem übertrifft. Sie nannten mich „Röhr- beutel“ (Aussprache: [reàbaidl]), „röhren“ ist bayerisch für „weinen“, man war schon immer ein bisschen derber dort
unten im Süden. Die anderen Kinder waren wilde Naturge- wächse, ich eher eine zarte Zimmerpflanze. Es gab viele Gründe, in Tränen auszubrechen: aufgeschlagene Knie, Hän- seleien, die Verzweiflung darüber, aus dem Raster zu fallen, und die Wut, weil es ein solches gab. Tränen, so die Psycholo- gie, sind ein Kommunikationsmittel. Wer weint, sucht Hilfe. In der Zwergengesellschaft meiner Landkindheit aber galt eher ein darwinistisches Prinzip. Es wäre mir allerdings auch nicht eingefallen, meine leicht fließenden Tränen zu unter- drücken. Ich hatte schnell verstanden, dass sie mir zu einer Art Schutzstatus verhalfen bei denen, die am Ende wirklich was zu melden hatten: Eltern, Lehrpersonal und andere Erwachsene, die die Botschaft allesamt richtig verstanden: Das Kind braucht Trost, Umarmungen und Schokolade.
Weinen, diese „sekretmotorische Reaktion“ unseres Kör- pers, wie die Wissenschaft es nennt, ist ein in jeder Hinsicht hochkomplexer Vorgang. Es sind dabei mehrere Gesichts- muskeln, Hirnstrukturen und Nerven aktiviert, aber den wirklichen Unterschied machen die Tränen. Wo sie aus wei- nenden Gesichtern wegretuschiert waren, konnten Studien- teilnehmende diese auf Fotos nicht mehr von lachenden unterscheiden. Tränen wiederum sind nicht gleich Tränen, es gibt emotionale (siehe Kindheit und Nick Cave), basale (um das Auge zu reinigen) und reflektorische (durch Fremdein- wirkungen wie Rauch oder die Schärfe einer Zwiebel verur- sacht). Alle bestehen aus Elektrolyten, Wasser und Proteinen, doch emotionale Tränen enthalten eine höhere Konzentra- tion an Prolaktin, Mangan, Kalium und Serotonin. Manche in der Forschung vermuten darin einen Beleg dafür, dass
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FOTO Mare Verlag
WASSER
























































































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