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                                 Weinen dem Stressabbau dient, andere sagen, der Trost, den der oder die Weinende sich erhofft, spiele dafür eine wesent- lich größere Rolle. Die Weinende ist dabei das häufigere Phänomen: Einer Studie zufolge weinen Frauen im Schnitt 64-mal pro Jahr, Männer nur 17-mal. Die Unterschiede bilden sich allerdings erst im Teenageralter heraus, man hat uns Damen das Gefühlige also anerzogen.
Schönen Dank dafür. Und zwar im Ernst. Röhrbeutel wie ich werden zwar bisweilen als instabil, inkompentent und manipulativ wahrgenommen, aber man hält uns auch für warmherziger, freundlicher und ehrlicher. Es gibt Menschen, denen fehlt die Fähigkeit zu emotionalen Tränen ganz, sie sind oft anfälliger für psychische und körperliche Erkran- kungen. Trotzdem tupfen wir uns sogar auf Beerdigungen verschämt die Tränen hinter der Sonnenbrille weg und wei- nen laut Umfragen am liebsten zu Hause allein – auch das eine Folge unserer (westlichen) Sozialisation. Auf Samoa gehört es zum guten Ton, bei Trauerfeiern so laut zu weinen, wie man nur kann. Das hat Alvin Borgquist, ein amerikani- scher Psychologiestudent, in seiner weltweit ersten Studie über das Weinen schon 1906 herausgefunden.
Bei uns aber bleibt das Misstrauen gegenüber allzu öffent- lichen Gefühlsausbrüchen, vielleicht auch, weil in der all- gegenwärtigen Bilderflut ein paar Schluchzer zu viel von geständigen Seitenspringenden oder verzweifelt Betrogenen gepostet wurden. Das Krokodil, das heuchlerischen Tränen seinen Namen gab, produziert diese übrigens beim Fressen, weil es dabei sein Maul so weit aufreißt, dass Druck auf die Tränendrüsen ausgeübt wird. Aus demselben, rein physi- schen Grund weinen auch wir als Säuglinge beim Schreien unsere ersten Tränen.
Auch mir ist es lieber, wenn in Gesellschaft vergossenen Tränen ein heftiger Lachkrampf vorausgeht (was mir ebenso häufig passiert) und ich im stillen Kämmerlein weinen kann. Meiner ganz subjektiven Forschung zufolge hat es durchaus etwas Erleichterndes, sich der Traurigkeit und damit ganz sich selbst hinzugeben. Kein Mensch hätte doch sonst frei- willig Filme wie „Love Story“ oder „Zeit der Zärtlichkeit“ angeschaut. „Die Fähigkeit, sich selbst im Weinen Trost zuzu- sprechen, diese Umarmung mit sich selbst zu vollziehen, ist zuweilen besser zugänglich als jede Umarmung durch andere Personen.“ Schreibt der amerikanische Soziologe Jack Katz. Es könnte also durchaus sein, dass wir „Röhrbeutel“ am Ende die Stärkeren sind, weil wir verstanden haben, dass man sich jedem Schmerz letztlich alleine stellen muss. ●
MARTINA WIMMER
lebt und arbeitet als Autorin in Berlin. Die bayerische Heimat, die sie hinter sich gelassen hat, bringt sie heute noch regelmäßig fast zum Weinen. Vor lauter Freude allerdings, jedes Mal, wenn bei der Anreise die Berge am Horizont auftauchen.
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