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BILD am SONNTAG, 19. Juli 2020
Olympischen Spiele in Moskau – ohne westdeutsche Beteiligung SPORT . 13
du politisch instrumentalisiert einen hatte ich Achillessehenpro-
wirst. Beide Boykotte, 1980 und bleme und nicht mein volles Leis-
1984, waren Fehlentscheidungen. tungsvermögen. Zum anderen wa-
Marlies Göhr und Natürlich war es nicht richtig, dass ren die Umstände schon ominös.
Hagen Stamm die Russen 1979 in Afghanistan Ich musste im Endlauf auf der Au-
beim BamS-Termin einmarschiert sind. Aber die Fra- ßenbahn acht starten, obwohl mir
in Potsdam. Die ge ist, ob wir als Sportler die rich- eine der Mittelbahnen zugestan-
Ex-Weltrekordlerin tige Waf e waren, um das zu besei- den hätte. Das ist für einen Sprin-
arbeitet heute als Psy- tigen. Wo liegt denn unsere Feu- ter schon ein Nachteil. Dann wa-
chologin, Stamm ist
Wasserball-Bundes- erkraft? Es wurden auch woanders ckelte mein Startblock. Und es gab
trainer und hat einen auf der Welt Stellvertreter-Kriege damals ja immer zwei Zielfotos,
Fahrrad-Großhandel geführt, und trotzdem fand Olym- ein rechtes und ein linkes. Das von
pia statt. Aber so war es damals der rechten Seite, auf der ich ge-
halt. Wir waren Vasallen der Amis laufen bin, war nach dem Rennen
bzw. der Russen. aber plötzlich verschwunden. Da
GÖHR: Das war leider so, haben die Russen alles
ja. „Nach dem ausgenutzt, was in ihrer
STAMM: Ich habe zu Hau- Macht stand.
se noch eine Urkunde an Finale war
steht drauf: „Höhere das Ziel- Konnte Ihre Mann-
der Wand hängen. Da
schaftsleitung nichts
Kräfte verhinderten sei- foto ver- machen?
nen Start ...“ Unterschrie- GÖHR: Wir haben natür-
ben vom damaligen Bun- schwunden“ lich gesprochen, aber
despräsidenten. Dane- was wollte man tun? Die
ben hängt meine Bronzemedaille waren auch enttäuscht. Wie ge-
von 1984. Das erinnert mich daran, sagt, mein Fehler, ich hätte schnel-
dass man immer hart weiterarbei- ler laufen müssen.
ten sollte, auch wenn dir mal Stei-
ne in den Weg gelegt werden. So- Nicht der gesamte Westen hatte
gar die Sporthilfe hat uns 1980 ei- 1980 die Spiele boykottiert. Die
ne Prämie gezahlt, weil wir als Me- Engländer, Franzosen und Itali-
daillenkandidat eingestuft waren. ener beispielsweise waren dabei.
Hatten Sie Kontakt?
Haben Sie die Spiele 1980 ver- GÖHR: Ja, vor allen zu den Englän-
folgt, Herr Stamm? dern, die wir aus zahlreichen Län-
STAMM: Nein. Ich habe mir meine derkämpfen kannten. Aber wir ha-
Frau geschnappt und bin total ben nicht groß über den Boykott
frustriert in den Urlaub gefahren. gesprochen.
Ich glaube, ich habe keine einzige
Sekunde der Spiele gesehen. Durften Sie überhaupt Kontakt
GÖHR: Ich kann das total nachvoll- haben?
ziehen. 1984 konnte ich mir die GÖHR: Of ziell nicht. Aber darum
Spiele kaum anschauen. Der bit- habe ich mich nie sonderlich ge-
terste Moment war, als Evelyn schehrt, was mir einige Ausspra-
Ashford, meine härteste Rivalin, chen mit unseren Funktionären
den Endlauf gewann. In 10,97 Se- eingebracht hat – die fanden das
kunden – weiß ich noch genau. nicht so lustig. Ich erinnere mich
noch dran, wie ich 1988 vor mei-
Ihre Bestzeit war 10,81 Sekun- nem Vorlauf noch mit Jürgen
den. Hingsen (westdeutscher Zehn-
GÖHR: Stimmt. Das war bitter, zu- kämpfer; d. Red.) geredet habe, der
gucken zu müssen. 1983 hatten wir war knapp vor uns dran. Der hat
einen Länderkampf in Los Ange- dann anschließend drei Fehlstarts
les, da habe ich Evelyn in ihrem gemacht. (lacht)
eigenen Olympiastadion geschla-
gen. Danach haben die Amerika- Waren Sie sich damals eigent-
ner die Siegerehrung ausfallen las- lich bewusst, wie politisiert der
sen. (lacht) Sport war und dass Sie nicht nur
Ihre Länder, sondern auch deren
Sie starteten 1980 im Finale, Systeme vertreten haben?
Frau Göhr, und wurden Zwei- STAMM: Das ist uns 1980 auf tra-
te, obwohl das Zielfoto zeigt, gische Weise klar geworden. Da
dass sie mindestens gleichauf waren wir politische Marionetten.
mit Lyudmila Kondratyeva ins GÖHR: Uns war schon klar, dass
Ziel kamen. Die Russin wurde wir in den Sozialismus eingebun-
aber mit einer hundertstel Se- den waren. In der DDR waren wir
kunde Vorsprung zur Siegerin schon mit die Linientreusten im
erklärt. Vergleich zu Polen oder Ungarn.
GÖHR: Es war ja meine Schuld. Ich Der Boykott 1984 war dann eine
hätte einen Schritt schneller sein Retourkutsche für 1980. Ich bin
können. dann auch aus der Gesellschaft für
Deutsch-Sowjetische Freund-
Im Ernst ... schaft ausgetreten. Das war mir zu
GÖHR: Es war schon bitter. Zum blöd.
„Wir wurden politisch
instrumentalisiert“
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