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WAS MAN AUS DER GESCHICHTE LERNEN KANN
von WGM Bettina Trabert & GM Spyridon Skembris
jedem modernen Open gibt, wenn man Partien eines starken Großmeis- ters gegen einen schwächeren Gegner nimmt. Vermutlich ließen sich auf die- se Weise tatsächlich viele für das Lehr- buch geeignete Partien finden, nur werden sie selten herausgefiltert und ähnlich gut kommentiert.
Bei den großen Partien der Vergan- genheit gibt es im optimalen Fall die Originalkommentare eines Spie- lers der damaligen Zeit, sowie späte- re Kommentare, die Fehler korrigiert und auf weitere Feinheiten hingewie- sen haben. Ein solches Vorgehen hat viele Vorteile: Man kann die Gedan- kengänge des Spielers selbst nach- vollziehen, und man bekommt gleich- zeitig eine objektivere Bewertung aus heutiger Sicht. Und schließlich be- kommt man noch ein Stück Geschich- te mitgeliefert: Eine besondere Idee oder ein grober Fehler aus der ent- scheidenden Partie eines Weltmeis- terschaftskampfes ist wahrscheinlich besser im Gedächtnis zu behalten als eine x-beliebige Partie aus irgendei- nem Open.
In einer seiner Partiekommentare sag- te Nakamura einmal, er glaube mehr an Rybka als an Capablanca. Schneller als jemals sonst hat sich der Zugang zum Schach in der heutigen Zeit verändert. Während es früher einfach selbstver- ständlich war, dass man die Partien der großen Spieler der Vergangenheit stu- dieren musste, um sein eigenes Schach zu verbessern, spielen heute die Com- puter eine immer größere Rolle, mit ih- ren riesigen Datenbanken und Program- men, die die Partieanalyse auf Wunsch ganz alleine erledigen. Braucht man in der heutigen Zeit überhaupt noch die Klassiker, oder kann man Schach auch mit den topaktuellen Partien oder viel- leicht gar von den Computerprogram- men direkt lernen?
Um was geht es eigentlich, wenn man von der Schachgeschichte oder den „Klassikern“ spricht – sollte man bis Andersen zurückgehen, sind es Spieler wie Lasker oder Capablanca, oder zäh- len heute auch schon Fischer oder Kar- pow zu den Klassikern? Sicherlich kann man von den Partien verschiedener Zei- ten unterschiedliche Dinge lernen.
Nicht umsonst hat Kasparow viele Jah- re lang an seinem monumentalen Werk „Meine großen Vorkämpfer“ gearbei- tet. Er beschreibt jeden einzelnen der großen Spieler als Kind seiner Zeit, der entsprechend auch einen jeweils ande- ren Beitrag zur Schachgeschichte ge- liefert hat. In diesem Beitrag werden wir uns mit den Partien der Vor-Com- puter-Ära beschäftigen, denn der Ein- zug der Computer in das Turnierschach (und unser gesamtes Leben) stellt si- cherlich einen der größten Einschnitte überhaupt dar.
Es ist oft gesagt worden, dass in den Partien der Klassiker – gemeint sind hier meist die Spieler des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts – die Ide- en deutlicher zu erkennen sind, weil sie nicht so komplex sind wie heutige Spitzenpartien, und die Gegenwehr oft schwächer war. Spieler wie Capablanca waren ihren Gegnern oft so überlegen, dass die Ideen und Pläne umso deutli- cher zu Tage treten. Und natürlich sind auch die Fehler der Gegner lehrreich. Dagegen könnte man einwenden, dass es ein solches Spielstärkegefälle bei
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R O C H A D E E U R O PA MAI 2017