Page 45 - RochadeFlipTest1
P. 45

AUS DER GESCHICHTE LERNEN
Die Spielstärke basiert zu einem großen Teil auf dem Erkennen typischer Muster.
Es wäre natürlich Unsinn zu behaup- ten, dass man aus den großartigen Par- tien der heutigen Spitzenspieler wie Carlsen oder Kramnik nicht auch eine Menge lernen könnte. Aber man kann vielleicht sagen, dass sie in vielen Fäl- len schwerer zugänglich sind. Da ist zu- erst einmal ein riesiger Theoriewust, den man ohne entsprechende Kennt- nisse kaum einordnen kann: Eine inte- ressante Neuerung im 23. Zug wirklich zu verstehen, setzt eine Menge Wissen voraus. Außerdem bleiben viele Ideen hinter den Kulissen, weil die Topspieler wissen, dass sie bestimmte Dinge lieber nicht zulassen – für den Zuschauer ist das aber nicht so leicht nachvollziehbar.
Natürlich können gute Kommentare den Zugang erleichtern, aber da heut- zutage vor allem die Computer analy- sieren, bekommt man meist zwar vie- le korrekte Varianten angegeben, aber nicht unbedingt die Ideen erklärt. Und wenn die Großmeister selbst ihre eige- nen Partien analysieren, kann man da- von ausgehen, dass sie selten ihr gan- zes Wissen preisgeben.
Dennoch sind menschliche Kommenta- re grundsätzlich vorzuziehen, und zwar umso mehr, je weniger Erfahrung man selbst hat. Computer-Engines können zwar gute Züge anzeigen, aber keine Ideen erklären. Es ist sicherlich span- nend und amüsant, die Partien der gro- ßen Spieler live zu verfolgen und ne- benbei ein starkes Programm laufen zu haben, das gleich anzeigt, wenn auch die Cracks einmal danebenliegen. Der Lerneffekt ist dabei allerdings ziemlich gering. Wenn man wirklich etwas ler- nen will, sollte man die Engines abschal- ten und den eigenen Kopf anschalten, um die eigenen Gedankengänge mit de- nen der Großmeister zu vergleichen. Das gleiche gilt natürlich auch für die älteren Partien: Sicherlich kann man mit den heutigen Computern in den Partien der Stars von einst eine Men- ge Fehler ausfindig machen. Trotzdem lohnt es sich, ihre Ideen nachzuvollzie- hen, denn so schlecht waren sie in den meisten Fällen nicht...
Zunächst einmal bieten die Partien der Vergangenheit also einen riesigen Er- fahrungsschatz. Betrachten wir die Par- tiephasen einmal einzeln mit der Frage- stellung, was man aus den alten Partien in dieser Hinsicht jeweils lernen kann.
Eröffnung:
In den Eröffnungen hat sich im Lau- fe der letzten hundert Jahre natürlich am meisten getan. Die Spieler des frü- hen 20. Jahrhunderts kamen noch mit sehr wenig konkretem Eröffnungswis- sen aus. Dagegen legen heute oft auch Amateurspieler großen Wert auf stän- dig aktualisierte Datenbanken mit den neuesten Partien, um nur ja keine Neu- erung zu verpassen. Auf den ersten Blick sind die alten Partien in diesem Bereich also mehr oder weniger wert- los. Allerdings kann man es auch so se- hen, dass die Eröffnungstheorie per se schachliche Geschichtsschreibung ist: Jeder Eröffnungstrick und jede Falle, jede Variante, die ad acta gelegt wur- de, geht auf mindestens eine histori- sche Partie zurück.
Die Eröffnungstheorie hat sich ja gera- de erst durch die Aufarbeitung vergan- gener Partien herausgebildet. Um eine Variante also wirklich zu verstehen, ist es sehr sinnvoll, sich auch ältere Par- tien anzuschauen, auch wenn „man“ heute nicht mehr so spielt. Außerdem unterliegen die Eröffnungstrends mit- unter einfach Moden, und manche alte Variante kann sich ein wenig aufpoliert auch heute noch sehen lassen – zumal wenn der Gegner überhaupt nicht dar- auf vorbereitet ist. Zur Inspiration kann es also auch im Bereich der Eröffnun- gen durchaus lohnend sein, auch mal in alten Partien zu stöbern.
Mittelspiel:
Neben dem konkreten Rechnen basiert die praktische Spielstärke zum großen Teil auf Mustererkennung und deren Anwendung. Solche Muster können ebenso taktische Motive oder Angriffs- ideen wie auch langfristige strategi- sche Pläne darstellen. Starke Großmeis- ter denken sich die Pläne im Mittelspiel
in den wenigsten Fällen ganz neu aus, sondern orientieren sich an Plänen, die in ähnlichen Stellungen erfolgreich wa- ren. Daher sollte die Eröffnungsvorbe- reitung auch immer mit dem Lernen von typischen Plänen und Motiven ver- bunden sein.
Natürlich ist das Schach so vielfältig, dass sich jede Partie nach kurzer Zeit in eigenen Bahnen entwickelt, womit sich die Pläne nicht ohne Weiteres von einem Fall auf den anderen übertra- gen lassen. Und gerade das ist einer der Kernpunkte schachlicher Stärke: Zu erkennen, welche die entscheidenden Stellungsmerkmale sind, welche takti- schen und strategischen Motive rele- vant sind und welche Pläne am ehes- ten Erfolg versprechen. Daraus bildet sich im Laufe der Zeit das, was man In- tuition nennt: Wenn man ohne großes Nachdenken den richtigen Plan erkennt oder zumindest weiß, in welcher Rich- tung es sich zu rechnen lohnt, basiert das in er Regel auf einer großen Men- ge von Erfahrungen, die man aus ande- ren Partien gewonnen hat.
In vielen Fällen können Großmeister, die eine klassische Schachausbildung genossen haben, die Pläne und Motive bekannten Partien direkt zuordnen. Je ungewöhnlicher ein Plan ist, desto eher lässt er sich mit einer einzelnen Partie in Verbindung bringen. Hier ist ein ty- pischer Fall.
K
k GM A. Jussupow 2555
GM M. Taimanov 2510
Match, UdSSR 1982 Englische Eröffnung [A31]
1.d4 Sf6 2.c4 c5 3.Sf3 cxd4 4.Sxd4 b6 5.Sc3 Lb7 6.f3 e6 7.e4 d6 8.Le2 a6 9.Le3 Sbd7 10.0–0 Le7 11.Dd2 0–0 12.Tfd1 Tc8 13.Tac1
Die typische Igel-Formation.
XABCDEFGHY 8 +rwq trk+( 7+l+nvlpzpp' 6pzp zppsn +& 5+ + + + % 4 +PsNP+ +$ 3+ sN vLP+ # 2PzP wQL+PzP" 1+ tRR+ mK ! xabcdefghy
MAI 2017
ROCHADE EUROPA
45


































































































   43   44   45   46   47