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Maritime Sicherheitspolitik
Angesichts der eher konventionellen maritimen Probleme in der Ostsee stellt sich als viertes Rätsel die Frage, ob es uns gelingen kann, uns auf das vorzuberei- ten, was kurzfristig auf uns zukommt (die Zukunft der Ukraine, die Politik der Trump- Administration, die künftigen Regierun- gen in Frankreich und Deutschland usw.), ohne dabei die langfristigen Probleme aus den Augen zu verlieren (wie Klimawandel, Ressourcenknappheit, Massenmigration, ein drohender Krieg zwischen China und den USA im Indo-Pazifik usw.).
Zu diesen für sich genommen schon beträchtlichen Brandherden kommt hinzu, dass einige europäische Volkswirtschaften sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden und sich gleichzeitig glaubwür- dig von russischen Energieimporten und chinesischen Märkten abkoppeln müssen.
Schließlich sollte man sich fünftens damit befassen, wie man Fehler der Vergan- genheit vermeiden kann. Es muss ein gewisses Maß an Rechenschaftspflicht im Umgang mit Russland geben. Zu naiv, zu idealistisch war vielfach die Herange- hensweise.
Das dürfte für manche, die immer noch (oder bald wieder) Führungspositionen in Politik und Industrie innehaben, eine ziemliche Herkulesaufgabe bedeuten. Vielleicht ist die Hoffnung zu groß, dass ein solches Unterfangen, anstatt einzelne Personen zu benennen und zu beschämen, eine Kultur des Nachdenkens schafft, die für den künftigen Umgang mit einer zuneh-
mend chaotischen Welt und einem Macht- kampf um die internationale Sicherheit und Ordnung, der noch einige Zeit andauern wird, aufzeigt.
Zu guter Letzt gilt es dabei auch, nicht vor bündnisinternen Problemen die Augen zu verschließen. Der innerbe- triebliche Wettbewerb hat gewiss Vor- teile, solange er nicht politische, finan- zielle oder militärische Ressourcen von schlagkräftigen und abschreckenden Seestreitkräften in der Ostsee abzieht! Ein Beispiel hierfür sind die Auswirkun- gen der in Deutschland und Polen lau- fenden konventionellen Rüstungspro- jekte, die sich auf Heer und Luftwaffe konzentrieren und bei denen die See- streitkräfte und der maritime Bereich möglicherweise etwas zu kurz kommen. Eine Frage, die ebenfalls bislang unbe- antwortet im Raum steht, ist die Zukunft der von Großbritannien geführten Joint Expeditionary Force (JEF). Der Verband wurde von London als politisches und militärisches Instrument zur Einbindung nordeuropäischer Länder, insbesondere Schwedens und Finnlands, geschaffen, bevor diese der NATO beitraten. Da die Machtprojektionskapazitäten der Royal Navy stark gefährdet sind (man denke nur an die im November 2024 verfügte Ausmusterung der beiden großen Lan- dungsschiffe HMS albioN und HMS bulwark), ist das Vereinigte Königreich angesichts der anstehenden Überprü- fung der Verteidigungs- und Sicherheits- strategie versucht, seine eigene maritime
und militärische Rolle an der Nordflanke neu auszurichten. Offenbar scheint auch die JEF nach einem neuen Konzept zu suchen. Gleichzeitig hat die Deutsche Marine im Oktober 2024 ihr multinati- onales taktisches Marinehauptquartier, das Kommando Task Force Baltic (CTF- B), in Dienst gestellt. Deutschland, das sich nicht an der JEF beteiligt, sollte auf die Beseitigung von Doppelstrukturen hinarbeiten, wenn es um die maritime Sicherheit und Strategie im Ostseeraum geht. Dies muss freundlich und zielge- richtet geschehen, damit JEF- und CTF- B-Nationen nicht gegeneinander ausge- spielt werden. Ein solches Zerwürfnis wäre schließlich eine hervorragende Gelegen- heit für russische Desinformationsopera- tionen, die die Einheit und Solidarität der Allianz untergraben würden.
Es müssen aktualisierte Strategien für die Nordflanke entwickelt werden, sei es eine Neufassung der Maritimen Strategie des Bündnisses (2011) oder ein neues Konzept für maritime Operationen (CONMAROPS). Nur so können Ziele, Wege und Mittel rich- tig auseinandergehalten werden. Die Ost- see und die Nordflankenregion brauchen eine solche Orientierung, die über die tak- tischen und politischen Details des Tages hinausgeht. 7
Dr. Sebastian Bruns ist Fellow am Royal Navy Strategic Studies Centre (Ports- mouth, Vereinigtes Königreich) und Poli- tikwissenschaftler am Institut für Sicher- heitspolitik Kiel (ISPK).
Überraschend besuchten die schwedischen Tarnkappen- korvetten K 34 nyköping (vorne links) und K 35 kArlstAd (im Hintergrund) sowie das Patrouillenboot P 11 stOckhOlm am 1. April die schleswig-holsteinische Hauptstadt Kiel
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Foto: Stephen Gergs