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Christian Faltl
Traktat über den Winter
„Der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer ...“, ja, so haben wir fröhlich in
der Volksschule gesungen. Viele Winter sind seither ins Land gegangen. Einer sogar in
Strafhaft, aber das war keine Jahreszeit, sondern ein AKH-Manager gleichen Namens.
Der Winter hat – so wird allgemein berichtet – seine schönen Seiten. Für die Kinder stimmt
das wohl allemal, für die Erwachsenen würde ich das nicht generell gelten lassen. Da ist zum
Beispiel das wichtigste Winter-Attribut, der Schnee! Schon in der Schule, als uns der Schnee
noch begeistern konnte, ist auf Grund unzureichender Physikstunden und den unsäglichen
Geschichten von den Aggregatzuständen des Wassers, die genaue Erklärung warum
gefrorenes Wasser einmal als Hagel, als Eiszapfen, als Speiseeis und als Schneeflocken sehr
unterschiedlich vorkommen, unterblieben. Gefrorenen Regen kann ich bis heute nur physisch
unterscheiden – als Hagel oder Schnee – wenn mir beides auf den Kopf fällt. Ein
gedankliches Frösteln ist angesagt.
Die winterliche Pracht geriert sich in der Großstadt ja eher als kolloidales Mittelding
zwischen Terrazzobeton und Haustierjauche, was die Freuden des Winters erheblich belastet.
Man kann Schneebälle kaum formen, es werden in jedem Fall Dreckbälle und mit etwas
Glück hat man dann auch noch Stinkefinger. Aber wollen wir nicht den Winterfreuden sofort
mit Mäkeln den Spaß verderben. Also Schnee: Schneemann (lebt eher nur mehr in Vorgärten
der Peripherie und in Schulhöfen), Schneeball (in der Stadt eher als Eis- oder Schotterball im
Gebrauch, sorgt auf Fensterscheiben für Versicherungsfälle und im Gesicht für
Ambulanzgebühren), Rodelbahn (peripherer Abhang, der nach dünnem Flockengestöber
irrtümlich eine Piste vortäuscht, nach ein paar Schlitten ist die Rodelbahn ein unterkühlter
Grünstreifen!). Ein kühler resignativer Hauch ist angesagt.
Bleibt also für den Großstädter im Winterfreudentaumel nur noch die Hohe-Wand-Wiese
(schneekanonengepflegt) für das „Wieserlrutschen“ (Schifahren ist hier als Tätigkeitswort zu
übertrieben) und Schlittschuhlaufen auf diversen Eislaufplätzen (kunstbeeist). Was lernen wir
daraus? Der Winter hat seine Kernfestigkeit längst eingebüßt, und ohne unsere technischen
Errungenschaften wäre er nur mehr eine Jahreszeit ohne Charakteristik. Die moderne Gefrier-
und Beschneiungstechnik ist praktisch das Viagra des Winters.
Natürlich, ich höre sie schon argumentieren, auf dem Land (hollodrio!) da ist der Winter noch
der alte, mit Eis und Schnee und Schi und Hasen und Schilehrern, die dazwischen grasen.
Mit dem Lift fahr ich in d’ Höh, bevor ich auf mein‘ Glühwein geh! Ja, Freunde, angesichts
der erwärmenden Vielzahl an alkoholischen Schihüttenlabungen wird die Pracht des Winters
vielleicht doch nur durch Alkoholnebel halluziniert, denn im morgendlichen Wetterpanorama
erstrahlt so manche berühmte Schipiste in eher erdigem ockerbraun, denn im eisgeschönten
winterweiß. Aber vielleicht hat nach dem Einsatz von „Agent-Orange“ gegen den natürlichen
Pflanzenwuchs die auch hier vorhandene nächtliche Schneekanone den Dienst versagt. Ein
vorabstinenter Schüttelfrost ist angesagt.
Also, wo ist es noch Winter, in Sibirien meint der Witzbold. Gut, wenn die Schneeflocken
dort noch nicht wegen der Strontium-Konzentration aus unzähligen unterirdischen
Atomversuchen schmelzen, dann ist dort der Winter noch (radio)aktiv. Die Minusgrade – so
bis 50 etwa – lassen das Herz des Husky-Sportlers höher schlagen. Aber bleiben wir auf dem
(Schnee)Teppich, wer will wirklich Sibirien in Wien. Für die Kältefanatiker ist Sibirien sehr
fern, aber der „kleine Bruder“, das Waldviertel, ist mit häufigen minus 20 Grad in der
Zwettler Gegend auch nicht zu verachten. Nicht umsonst wird das Waldviertel – der
Tourismus darf auch hier nicht Halt machen – mit neun Monaten Winter und drei Monaten
kalt charakterisiert. Eine urgesteinige Gänsehaut ist angesagt.