Page 4 - Artemis_6
P. 4

Christian Faltl

               Traktat über den Winter


               „Der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer ...“, ja, so haben wir fröhlich in
               der Volksschule gesungen. Viele Winter sind seither ins Land gegangen. Einer sogar in
               Strafhaft, aber das war keine Jahreszeit, sondern ein AKH-Manager gleichen Namens.
               Der Winter hat – so wird allgemein berichtet – seine schönen Seiten. Für die Kinder stimmt
               das wohl allemal, für die Erwachsenen würde ich das nicht generell gelten lassen. Da ist zum
               Beispiel das wichtigste Winter-Attribut, der Schnee! Schon in der Schule, als uns der Schnee
               noch begeistern konnte, ist auf Grund unzureichender Physikstunden und den unsäglichen
               Geschichten von den Aggregatzuständen des Wassers, die genaue Erklärung warum
               gefrorenes Wasser einmal als Hagel, als Eiszapfen, als Speiseeis und als Schneeflocken sehr
               unterschiedlich vorkommen, unterblieben. Gefrorenen Regen kann ich bis heute nur physisch
               unterscheiden – als Hagel oder Schnee – wenn mir beides auf den Kopf fällt. Ein
               gedankliches Frösteln ist angesagt.
               Die winterliche Pracht geriert sich in der Großstadt ja eher als kolloidales Mittelding
               zwischen Terrazzobeton und Haustierjauche, was die Freuden des Winters erheblich belastet.
               Man kann Schneebälle kaum formen, es werden in jedem Fall Dreckbälle und mit etwas
               Glück hat man dann auch noch Stinkefinger. Aber wollen wir nicht den Winterfreuden sofort
               mit Mäkeln den Spaß verderben. Also Schnee: Schneemann (lebt eher nur mehr in Vorgärten
               der Peripherie und in Schulhöfen), Schneeball (in der Stadt eher als Eis- oder Schotterball im
               Gebrauch, sorgt auf Fensterscheiben für Versicherungsfälle und im Gesicht für
               Ambulanzgebühren), Rodelbahn (peripherer Abhang, der nach dünnem Flockengestöber
               irrtümlich eine Piste vortäuscht, nach ein paar Schlitten ist die Rodelbahn ein unterkühlter
               Grünstreifen!). Ein kühler resignativer Hauch ist angesagt.
               Bleibt also für den Großstädter im Winterfreudentaumel nur noch die Hohe-Wand-Wiese
               (schneekanonengepflegt) für das „Wieserlrutschen“ (Schifahren ist hier als Tätigkeitswort zu
               übertrieben) und Schlittschuhlaufen auf diversen Eislaufplätzen (kunstbeeist). Was lernen wir
               daraus? Der Winter hat seine Kernfestigkeit längst eingebüßt, und ohne unsere technischen
               Errungenschaften wäre er nur mehr eine Jahreszeit ohne Charakteristik. Die moderne Gefrier-
               und Beschneiungstechnik ist praktisch das Viagra des Winters.
               Natürlich, ich höre sie schon argumentieren, auf dem Land (hollodrio!) da ist der Winter noch
               der alte, mit Eis und Schnee und Schi und Hasen und Schilehrern, die dazwischen grasen.
               Mit dem Lift fahr ich in d’ Höh, bevor ich auf mein‘ Glühwein geh! Ja, Freunde, angesichts
               der erwärmenden Vielzahl an alkoholischen Schihüttenlabungen wird die Pracht des Winters
               vielleicht doch nur durch Alkoholnebel halluziniert, denn im morgendlichen Wetterpanorama
               erstrahlt so manche berühmte Schipiste in eher erdigem ockerbraun, denn im eisgeschönten
               winterweiß. Aber vielleicht hat nach dem Einsatz von „Agent-Orange“ gegen den natürlichen
               Pflanzenwuchs die auch hier vorhandene nächtliche Schneekanone den Dienst versagt. Ein
               vorabstinenter Schüttelfrost ist angesagt.
               Also, wo ist es noch Winter, in Sibirien meint der Witzbold. Gut, wenn die Schneeflocken
               dort noch nicht wegen der Strontium-Konzentration aus unzähligen unterirdischen
               Atomversuchen schmelzen, dann ist dort der Winter noch (radio)aktiv. Die Minusgrade – so
               bis 50 etwa – lassen das Herz des Husky-Sportlers höher schlagen. Aber bleiben wir auf dem
               (Schnee)Teppich, wer will wirklich Sibirien in Wien. Für die Kältefanatiker ist Sibirien sehr
               fern, aber der „kleine Bruder“, das Waldviertel, ist mit häufigen minus 20 Grad in der
               Zwettler Gegend auch nicht zu verachten. Nicht umsonst wird das Waldviertel – der
               Tourismus darf auch hier nicht Halt machen – mit neun Monaten Winter und drei Monaten
               kalt charakterisiert. Eine urgesteinige Gänsehaut ist angesagt.
   1   2   3   4   5   6   7   8   9