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THEMA
MIT AUSGEBREITETEN FLÜGELN INS NEUE JAHR
von Angelica Dinger, Fotos: Rowan Heuvel/unsplash.com
wenn wir Anfang März nach einem letzten wenn dann irgendwann die Disziplin nicht
Aufbäumen die Segel streichen und aner- reicht, dann krachen sämtliche Vorhaben
kennen: Zwei Monate mehr Sport und ge- in sich zusammen. Aus dem durchschnitt-
sundes Essen sind ja auch schon was. Das lichen, normalen Ich wird erst das klügere,
große Hoffnungsversprechen der Zukunft vernünftige Super-Ich und schließlich ein
ist hübsch in mundgerechte Portionen zer- kleinlautes Versager-Ich.
legt. Erst die Ernährung umstellen, dann Das ist das zweite Problem mit den Vor-
den Horizont erobern. Der Horizont rückt sätzen: Sie können als Hoffnung auf einen
dabei in weite Ferne.
Aufbruch starten. Vertraut den neuen We-
Das ist das erste Problem mit Vorsätzen: gen, auf die der Herr euch weist! Um dann
Sie sind Ausdruck der Hoffnung auf eine zu einem Maßstab zu werden, der zeigt, was
mögliche Zukunft, auf Besserung. Aber sie wir alles nicht sind. Der Blick wandert vom
freien Himmel zur Suche mit der
Lupe nach Fehlern.
,,Wir werden dieses Jahr Französisch
lernen.“ „Ich werde dieses Jahr mit dem Es braucht Mut zum Fliegen.
Rauchen aufhören.“ Das Thema der Stun- Und Schauen ist ja auch schön.
de war das Futur simple. Die Klasse eines Wie mehr Sport machen und
Sommerkurses im Institut Français saß gesundes Essen. Und doch, es
im Berliner Westen beisammen und übte ist in uns, das Sehnen nach dem
Französisch. Alle sollten einen Vorsatz für weiten Horizont. Es ist ein Seh-
das neue Jahr im Futur formulieren. Nur nen nach großen Linien, nach
eine tat sich schwer. Denn sie mochte kei- Freiheit. Ob man diese großen
ne Vorsätze. Als sie an der Reihe war, sah Linien in Vorsätzen findet?
die Lehrerin sie aufmerksam an. „Ich habe Vielleicht es die Kunst, in dieser
keinen Vorsatz“, erklärte sie. Die Lehrerin Zeit des Jahres ab und zu in den
sagte unbeeindruckt: „Aha“ und schlug Himmel zu schauen. Auch wenn
daraufhin, das philosophische Problem wir den freien Himmel schnell
ignorierend, einen Satz im Futur mit Ver- wieder mit guten Vorsätzen zu-
neinung vor: „Ich werde dieses Jahr nicht stellen.
mit dem Rauchen aufhören.“
Die Flügel ausbreiten und los-
Zum neuen Jahr haben die guten Vorsätze sind auch ein Anspruch, der erfüllt werden fliegen. Dafür braucht es Mut. Zuversicht.
Konjunktur. Mehr Sport, gesünder essen, will. Sie entstehen durch Freiraum und die Zeit. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist
eine neue Sprache lernen, weniger Süßes. Vorstellung auf ein neues, anderes Jahr, das Freiheit“, steht im zweiten Korintherbrief.
Vielleicht ist das so, weil da ein Sehnen in noch nicht von den Festlegungen des All- Himmlische Freiheit. Welcher Stern leuch-
uns wohnt, nach Aufbruch, nach einem tags bestimmt ist. Gleichzeitig nehmen die tet an meinem Himmel am hellsten? Was
besseren Leben. Neujahr, das ist ein biss- Vorsätze der neuen Zeit das freie Element. beflügelt mich? Wovor habe ich Angst? Am
chen freier Himmel am Horizont. Das ist Sie legen uns fest, auf das, was wir sollen. Jahreswechsel müssen nicht die Pflichten
die leise Hoffnung: Etwas Neues bricht an. To-Do-Liste statt freier Himmel. für das neue Jahr festgelegt werden. Der
„Wir werden dieses Jahr Französisch ler- weite, freie Horizont liegt vor uns. Verstel-
nen.“ Nicht nur das, wir werden anders sein. Es braucht Mut len wir uns nicht die Sicht.
Wir werden glücklicher leben. Wir werden
unsere Flügel ausbreiten und den weiten, zum Fliegen. „Wir werden dieses Jahr Französisch lernen.“
freien Zukunftshimmel durchfliegen. „Ich werde dieses Jahr mit dem Rauchen
aufhören.“ Gute Vorsätze zum Neuen Jahr.
Allerdings: Sport machen, gesünder essen Vorsätze sind wie Wünsche nach einem Und das Futur simple kann man dabei auch
und eine neue Sprache lernen klingt nicht besseren Selbst. Einem Selbst, das diszipli- üben. Dann kommt jemand an die Reihe, der
nach freiem Himmel am Horizont. Es klingt niert ist. Ein klügeres, gesünderes, vernünf- keine Vorsätze mag. Und, das philosophi-
eher nach einer Fühl-dich-wohl-in-dei- tiges Selbst. Im Übermut des Hoffnungsho- sche Problem verstehend, im Präsens for-
ner-Haut-Anleitung aus der Brigitte. Die rizontes entstehen schnell mehr Vorsätze, muliert: „Ich schaue in den Himmel!“ Breiten
vielen Pflichten, die wir uns zu Neujahr auf- als eigentlich nötig wären. Zum ambitio- wir die Flügel aus und fliegen los.
erlegen, interessieren sich nicht für freien nierten Sportprogramm kommen der Ver-
Himmel. Wir uns übrigens auch nicht mehr, zicht auf Kuchen oder Fernsehen dazu. Und