Page 193 - Birgit Nilsson Book
P. 193

Landsmännin gegenüber weniger großzügig. Bei seiner Entscheidung, dass New York 1973/74 eine neue Isolde brauche, unterschätzte er die Loyalität des Met-Publikums gewaltig. Wie es das Schicksal wollte, war Gentele, bevor die Wiederaufnahme des Tristan anstand, bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und seine »neue« Isolde hatte abgesagt. Nilsson hatte bereits andere Verpflichtungen, erklärte sich jedoch bereit, die letzte Aufführung der Serie mit ihrem Freund und Kollegen Jon Vickers zu singen. Ihr erster und einziger gemeinsamer Tristan an der Met am 30. Januar 1974 ging in die Annalen der Metropolitan Opera ein.
Anschließend war Nilsson noch in Wagners Ring des Nibelungen an der Met zu hören, bevor sie ins Visier der amerikanischen Steuerbehörden geriet – gemeinsam mit anderen internationalen Stars wie Corelli, Tebaldi, Freni und Fonteyn, die alle denselben Steuerberater beschäftigten. Nach einer letzten Sieglinde am 2. April 1975 verließ die damals 56-jährige Nilsson das Land und kehrte scheinbar für immer nach Europa zurück. Mehrere Jahre später bot ein New Yorker Steueranwalt und Nilsson-Bewunderer seine Dienste an und erreichte eine Vereinbarung, die der inzwischen 61-jährigen Sängerin die Rückkehr nach New York zu einem Galakonzert unter Leitung von James Levine im November 1979 ermöglichte. Viele fragten sich, ob ihre Stimme in der Zwischenzeit wohl gelitten habe. Doch Nilsson »machte deutlich«, schrieb die New York Times, »dass sie nicht gewillt war abzudanken ... Als sie Brünnhildes Schlussmonolog beendet hatte, brachen jene frenetischen Ovationen los, die den ganz großen Aufführungen vorbehalten sind.«
Nach dieser Gala geschah etwas nie Dagewesenes: Um Nilssons Rückkehr mit einer Oper zu feiern, ersetzte die Met vier vorgesehene Lohengrin-Vorstellungen durch Elektra. Die Menschen standen tagelang Schlange und schliefen sogar nachts in den Unterführungen des Lincoln Center, um eine Karte zu ergattern. Trotz gelegentlicher Probleme in der Höhe wurde Nilsson von der New York Times als »Stimmwunder« gepriesen. »In einem Alter, in dem die meisten Sopranistinnen, und auch die viel weniger dramatischen, längst ihre Laufbahn beendet haben, ist sie immer noch in der Lage, eine ungeheure, kontrollierte Klangfülle hervorzubringen. Ihre Spitzentöne überstrahlen nach wie vor die lautesten Orchesterhöhepunkte. Sie kann sich aber auch zu einem wunderschönen Mezzoforte oder Piano zurücknehmen ... Die einzigartige, unverwüstliche Birgit Nilsson ist zurück, und sie ist so gut wie früher.«
Im Bewusstsein der historischen Dimension dieser Aufführungen stellten James Levine und die Met in weniger als 10 Tagen die Finanzierung dieser unerwarteten Fernsehübertragung sicher. Das Ergebnis ist ein Dokument von historischem Rang. Die Würde und Intensität von Nilssons Elektra und ihr Kontrast zu Rysaneks leidenschaftlicher Chrysothemis sind zutiefst berührend. Mit ausdrucksvoller Mimik und Körpersprache lässt Nilssons gefasste Elektra keinen Zweifel aufkommen an der Ungeheuerlichkeit ihrer Last, ihrem alles verzehrenden Verlangen nach Rache und ihrer Erschöpfung. Ihre Enttäuschung über Chrysothemis und die Verachtung für Mignon Dunns Klytämnestra sind geradezu spürbar. Die Erkennungsszene mit Donald McIntyre als Orest bildet, wie so oft bei dieser Oper,
 LA NILSSON 193






























































































   191   192   193   194   195