Page 194 - Birgit Nilsson Book
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den musikalischen und dramatischen Höhepunkt der Aufführung. Die vorliegende DVD macht durchweg die Größe und Intensität von Nilssons Stimme erfahrbar. Hinzu kommt die technische Mühelosigkeit, mit der diese faszinierende Künstlerin in einem Augenblick die größten stimmlichen Anforderungen bewältigt und im nächsten ein zartes Pianissimo singt. Nilssons Ausdeutung des Textes und ihr dramaturgisches Verständnis setzen Maßstäbe.
Die Aufführung dokumentiert auch einen der letzten Auftritte von Leonie Rysanek in einer ihrer Schlüsselrollen. 1984 wechselte die Sopranistin zur Titelpartie in Elektra, wenn auch nur für Götz Friedrichs Filmproduktion unter der musikalischen Leitung von Karl Böhm (ebenfalls auf DVD bei Deutsche Grammophon erschienen). Später, als ihre Stimme dunkler wurde, übernahm Rysanek die Rolle der Klytämnestra. Viele Besucher dieser Aufführung wussten nicht, dass Rysanek 38,9 Grad Fieber hatte und nach der Hälfte der Vor- stellung fast aufgegeben hätte. Glücklicherweise beschloss Rysanek, die Oper zu Ende zu singen. Der »ungeschönte« Live-Mitschnitt dieser Samstags-Matinee bietet zwar keine makellose Elektra, doch er ist ein bedeutendes Zeugnis zweier großer Sopranistinnen, die sich Herausforderungen stets stellten und keine Kompromisse akzeptierten. Das Publikum dankte den Sängerinnen mit lang anhaltendem Beifall (der als Bonustrack erstmals auf dieser DVD veröffentlicht ist; dabei gibt es nach etwa 16 Minuten auch einen kurzen Blick auf den weißen »Sicherheitsvorhang« der Met, der nicht lange nach dieser Aufnahme ausrangiert wurde).
Birgit Nilsson trat dann an der Met noch 1981 als Färberin in Die Frau ohne Schatten und 1983 in der Gala zum 100. Geburtstag des Opernhauses auf, bei der ihr als einziger Künstlerin eine Zugabe gestattet wurde (auch im Bonusmaterial dieser DVD enthalten). 1984 nahm sie offiziell ihren Abschied von der Opernbühne, sang aber von Zeit zu Zeit noch in der Kirche ihres Geburtsorts Västra Karup. Am 27. April 1996 war Birgit Nilsson ein letztes Mal auf der Bühne der Met zu sehen, in einer persönlichen Hommage zum 25-jährigen Dienstjubiläum von James Levine (ein weiterer Bonus-Track auf dieser DVD). Sie kehrte noch regelmäßig zu Meisterkursen nach New York zurück. Die letzte Vorstellung, die sie in der Met besuchte, war Tristan und Isolde am 18. Dezember 1999, zufällig auf den Tag genau 40 Jahre nach ihrem legendären Debüt an diesem Haus. Als die Zuschauer sie in der Loge des Generaldirektors erblickten, erhoben sie sich ein letztes Mal, um bewegt ihre vier Jahrzehnte währende Liebe zu Birgit Nilsson zu bekräftigen.
J. F. Mastroianni
(Übersetzung: Reinhard Lüthje)
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