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          Gaumen-







                  schmaus











          Austern gehören zur Bretagne wie der Eiffelturm zu Paris.
          Der Appetit auf die Delikatesse ist groß – doch können die

          Züchter den Heißhunger auch in Zukunft stillen?




          Die Abendsonne glitzert in den Pfützen, die   wie  Möwen  und  Seesterne  wehren  zu
          sich bei Ebbe auf dem sandigen Meeres-    können, hat die Auster eine ganz besonders
          boden bilden. Ein paar Krebse huschen vor-  dicke und scharfkantige Schale. „Entschei-
          bei,  es  riecht  nach  Seetang  und  Salz.   dend für das Öffnen ist nicht die Kraft, son-
          Edouard hockt auf der treppenartig ange-  dern nur die richtige Technik.“      „Cancale hat zwar nur
          legten Kaimauer am Hafen von Cancale und                                       5000 Einwohner“, sagt
          lässt seinen Blick über die vor ihm liegenden   Edouard setzt sein Messer am spitzen   Edouard. „Doch Fein-
          „Parcs à Huîtres“ streifen. Auf 360 Hektar   Ende, dem „Scharnier“, an, schiebt es   schmecker aus ganz Europa
          Meeresboden reihen sich kniehohe Tisch-  zwischen Ober- und Unterschale, bricht die   kennen den Ort als Austern -
          gestelle aneinander, auf denen großmaschige   Auster auf und durchtrennt dann vorsichtig   hauptstadt.“
          schwarze Taschen liegen. Ihr Inhalt ist das   ihren kräftigen Schließmuskel. Die glibberige
          vielleicht Wertvollste, was die Region zu   Masse, die für viele Gourmets der Himmel   Für die Austern ist es kein
          bieten hat: Austern.                auf Erden bedeutet, schlürft er direkt aus   Problem, wenn sie bei Ebbe
                                              der perlmuttfarben schillernden Schale. Bei   für ein paar Stunden auf
          „Wenn man Austern auf solchen Gestellen   Austern sei er Purist, esse sie am liebsten   dem Trockenen liegen. Sie
          aufzieht“, erklärt der 33-Jährige, „nehmen   ohne alles. „Das erste, sehr salzige Meer-  überleben ohne Wasser,
          sie keinen schlammigen Geschmack an.“   wasser gieße ich ab, denn eine frische Aus-  sicher verschlossen in ihrer
          Ein weiterer Vorteil dieser typisch franzö-  ter produziert sowieso sofort wieder neues,   Schale, bis zu zehn Tage.
          sischen Tischkultivierung ist, dass die Züch-  allerdings milderes Wasser.“
          ter ihren Austerngarten trockenen Fußes                                        Bei Flut steht das Wasser
          bewirtschaften können – allerdings nur bei   Schon die alten Römer schwärmten von   in manchem Austerngarten
          Ebbe. Sie stiefeln dann von Tisch zu Tisch,   Austern. Weil es an Italiens Küsten zu wenige   sechs Meter hoch. Stän-
          um die Taschen von Algen und Schlick zu   dieser Meerestiere gab, ließen die Kaiser   diger Begleiter eines jeden
          befreien. Außerdem schütteln und wenden   Sklaven in England und in der Bretagne   Züchters ist daher der
          sie die Meerestiere regelmäßig. Nur so   Austern sammeln. Mit Hilfe von Schnee   Gezeitenkalender. Denn
          können alle gleichmäßig wachsen. „Drei   wurden sie gekühlt und überstanden so die   wenn man den richtigen
          Jahre müssen die Austern reifen, bis man   lange Reise über die Alpen nach Rom. Auch   Moment der Rückkehr zum
          sie ernten kann“, sagt Edouard. „Manche   in Frankreich selbst hat die Begeisterung   Festland verpasst, kann es
          Züchter besitzen 30 000 Taschen und mehr –    für die Delikatesse Geschichte. Als Dank   lebensgefährlich werden.
          da kann man sich ausmalen, welch eine   dafür, dass Cancale ihn regelmäßig mit sei-
          Knochenarbeit dahintersteckt.“      ner Leibspeise versorgte, verlieh König
                                              Franz I. dem Ort 1545 die Stadtrechte.
          Eine der größten Austernfabriken in Cancale   Doch der Heißhunger des Versailler Hofes
          ist La Ferme Marine, ein Familienunterneh-  führte zu einer hemmungslosen Ausbeu-
          men in der vierten Generation. Edouards   tung der Austernbänke. Mitte des 19. Jahr-
          Job dort ist es, den Besuchern die Austern-  hunderts war die heimische Cancaleser
          zucht zu erklären. „900 000 Touristen kom-  Flachauster fast ausgerottet.
          men jedes Jahr nach Cancale, 26 000 davon
          zu uns“. Fachmännisch öffnet der junge Mann   Wenig später sorgte die aus Portugal impor-
          eine Auster. Um sich gegen Fressfeinde   tierte Felsenauster für neuen Aufschwung,
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