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          „Es ist, als würde man über das Wasser   tinger hat sich bewusst gegen einen Zugang   Die Gründe für die Versan-
          schweben“, schwärmt Jeanne über den   entschieden, der geradewegs auf das be-  dung der Bucht reichen bis
          neuen Zugang zum Mont St-Michel. Die   rühmte Monument zuläuft. „Das hätte doch   ins 19. Jahrhundert zurück.
            Pariserin spaziert zusammen mit ihrem   bedeutet, dass man Mont St- Michel nie ohne   Damals wurden die Flüsse
          Mann Jacques über die Brücke, die für die   die Brücke sehen kann.“ Für ihn sei es wich-  Couesnon, Sée und Sélune
          Dorfbewohner, Mönche und Nonnen des   tig, dass die Menschen den Weg hierher   umgeleitet und der Küsten-
          Klosters sowie für die mehr als drei Millio-  zelebrieren – so wie die Pilger früher. „Dieser    streifen trockengelegt, um
          nen Touristen jährlich die einzige Möglich-  Ort soll nicht nur ein kulturelles, sondern   ihn landwirtschaftlich nutzen
          keit ist, bei Flut den weltberühmten Felsen   auch ein landschaftliches Erlebnis sein.“  zu können.
          zu erreichen. Zu Fuß oder mit dem Shuttle-
          bus. „Wir waren vor zehn Jahren schon ein-  Tatsächlich  zählt  sowohl  die  Abtei  als   Eine Renaturierungsmaß-
          mal hier“, erzählt sie. „Damals konnten wir   auch die Bucht des Mont St-Michel zum    nahme ist der Bau einer
          mit unserem Auto über den Damm noch bis   UNESCO-Welterbe. Doch die Landschaft   Schleuse an der Einmün-
          zum Kloster fahren. Okay – das war beque-  rund um den Felsen im Ärmelkanal büßte   dung des Couesnon. Mit
          mer, aber jetzt ist es viel schöner.“  in den vergangenen Jahrzehnten an Schön-  deren Hilfe werden die  Sedi-
                                              heit ein. Statt von den Wellen des Watten-  mente durch die Kraft des
          Genau das war die Absicht von Architekt   meers umspült zu werden, sammelte sich    Wassers weggeschwemmt.
          Dietmar Feichtinger, dessen Brückenent-  Schlamm an. Solche Massen, dass die eins -   Experten gehen davon aus,
          wurf bei einer europaweiten Ausschreibung   tige Insel versandete. Von ihrem letzten Be-   dass in den nächsten Jah-
          den Zuschlag bekam. Als „Tausendfüßler“   such weiß Jeanne noch, dass Mont St-Michel   ren – unterstützt von Ebbe
          bezeichnet der Öster reicher sein Bauwerk –   mit der Küste regelrecht verschmolzen war:   und Flut – 80 Prozent des
          wegen der 136  Stützen, die im Meeres-  „Schafe grasten in den Salzwiesen. Das   Schlamms verschwinden.
          boden verankert sind. Feichtingers „Steg“,   Meer war praktisch verschwunden. Nicht   Schließlich ist nirgends in
          wie er ihn selbst nennt, überzeugte die   nur bei Ebbe, sondern immer.“        Europa der Gezeitenwech-
          Jury letztlich, weil er dem Mont St-Michel                                     sel so mächtig wie hier.
          nicht die Show stiehlt. „Ich wollte den Zu-  Um Mont St-Michel wieder zur Insel zu ma-
          gang mit der Landschaft verschmelzen“,   chen, schrieb die französische Regierung
          erläutert Feichtinger. „Mit einem Holzdeck   1995 ein millionenschweres Renaturie -
          knapp über der Wasseroberfläche und einer   rungsprojekt aus. Ziel war es, der Bucht ihr
          Serie von filigranen Stützen. Zahlenmäßig   Aussehen von vor hundert Jahren zurückzu-
          sind es viele, aber optisch fallen sie deutlich   geben. Schweres Gerät rückte an, um die
          weniger auf als massive Brückenpfeiler.“  neue Brücke zu bauen, den Straßendamm
                                              abzureißen und die Parkplätze auf das Fest-
          Die Brücke führt nicht direkt zum Felsen,    land zu verlegen. „Logistisch eine echte
          sondern macht eine ausladende Kurve.   Herausforderung“, erklärt Architekt Diet-
          Jeanne und ihr Mann bleiben immer wieder    mar Feichtinger. „Während der gesamten
          stehen, um das Kloster aus unter  schied-  Bauphase musste der Berg ja für die Be-
          lichen Perspektiven zu fotografieren. Feich -   wohner und Besucher zugänglich bleiben.“

                                                                                      In einem eleganten Bogen führt
                                                                                      die neue Stelzenbrücke zum
          Der 57-jährige österreichische Architekt Dietmar Feichtinger hat Büros in Wien und in   Mont St-Michel und eröffnet dem
          Montreuil bei Paris. Seit 1989 konzentriert sich seine Arbeit auf französische Projekte.  Besucher neue Perspektiven.
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