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Mensch.Schifffahrt.Meer.
1910. Crew. Macht. Karriere Sonderausstellung bis zum 6. November 2022
Suzanne Foxley*
Am 01. April 1910 beginnen 204 Männer ihre Ausbildung zum Kai- serlichen Seeoffizier. Die Mitglieder die- ses Jahrgangs werden als „Crew 10“ bekannt und später als „erfolgreichste Crew“ der Marine bezeichnet. Sie sind der erste Jahrgang, der einen Teil der Ausbil- dung, wenn auch nicht die gesamte Zeit, an der neu errichteten Marineschule Mür- wik absolviert. Einige Mitglieder erleben zwei Weltkriege, eine Revolution und ein „Wirtschaftswunder“, andere verstarben, noch ehe sie die Ausbildung abschließen
bei ein sogenanntes Storytelling-Ele- ment, welches Besucher direkt mit einer spannenden Erzählung in das Leben der Protagonisten hineinzieht: So schreibt Crewmitglied Erwin Braunhof nach dem Absturz des Marineluftschiffes L 19 noch eine letzte Flaschenpost an seinen Vater, ehe er verstirbt. Heinz Kraschutzki bittet nach Jahren der Stille um seine Wieder- aufnahme in die Crew. Und Otto von Spee segelt mit seinem Crewkameraden Martin Niemöller auf der Kieler Förde.
Die Auswahl der Biografien bietet eine Mischung aus bekannten und unschein- baren Persönlichkeiten, aus erfolgrei- chen und einfachen Karrieren, mit einer umfangreichen Bandbreite an politischen Einstellungen. Hans Dethleffsens Leben endet als Konterrevolutionär bei der „Befreiung“ von Bremen. Acht Crewkame- raden trugen ihn zu Grabe. Gegensätzli- cher konnte sein Crewkamerad Heinz Kra- schutzki nicht sein: Dieser wird nach dem Ersten Weltkrieg Mitglied des Bremerha- vener Soldatenrates und wird anschlie- ßend, trotz der Zusagen seines Vorgesetz- ten, aufgrund seines politischen Engage- ments nicht in die Reichsmarine übernom- men. Er wird, wie später Martin Niemöller, leidenschaftlicher Pazifist. Während Nie- möller persönlicher KZ-Häftling Hitlers wird, flieht Kraschutzki nach Mallorca, nur um dort einige Jahre später vom Franco- Regime zu 30 Jahren Haft verurteilt zu werden. In der Zwischenzeit erlebt Dönitz eine Erfolgskarriere wie wohl kein anderes Crewmitglied: Großadmiral, Oberbefehls- haber der Kriegsmarine, Reichspräsident . . . Kriegsverbrecher.
Der besondere „Erfolg“, der der Crew 1910 zugeschrieben wird, beruft sich dar- auf, dass 14 Mitglieder (rund 7 %) einen Admiralsrang erlangten. Doch über ein
Drittel der Crew erlebte das Jahr 1935 nicht mehr. Die meisten davon fielen im Ersten Weltkrieg, allein acht Angehörige auf der schArnhorst, 41 % der Gefalle- nen dienten auf U-Booten. Doch auch in der Weimarer Republik waren Verluste zu verzeichnen. Nur 24 Mitglieder dienen in der Reichsmarine weiter. Zwei Crewange- hörige nehmen sich, nach Aussagen des Crewbuches aufgrund finanzieller Not infolge ihrer Entlassung, das Leben.
Für diese Ausstellung wurden zum ers- ten Mal statistische Datenerhebungen mit Hilfe dreier studentischer Praktikanten am Museum durchgeführt, um die Erleb- nisse von Crewmitgliedern zu kontextua- lisieren. Im Vordergrund stand dabei die Auswertung der Ranglisten und des soge- nannten Ehrenbuchs, das die Leben der bis 1935 Verstorbenen tiefgründig schil- dert. Hierfür stellte die Marine-Offizier- Vereinigung großzügigerweise ihre Räum- lichkeiten und Materialien, teilweise auch als Leihgaben, zur Verfügung. Weitere Informationen konnten aus dem Wehr- geschichtlichen Ausbildungszentrum der Marineschule Mürwik in Bibliothek und Archiv gesammelt werden. Bei der Auswertung fällt auf, dass die Crew 1910, trotz ihres außergewöhnlichen Rufes, sehr repräsentativ für die Kaiserliche Seeoffi- zierausbildung ist.
Den Beruf des Seeoffiziers konnten in der Kaiserzeit nur wohlhabende Fami- lien anvisieren. Die Ausbildung war, trotz des eigenen Seeoffizieranwärtergehaltes, sehr kostspielig. Erwünscht waren Bewer- ber aus dem Adel oder aus Militärfami- lien, in der Praxis erhielt die Marine immer mehr Bewerber aus dem aufstrebenden Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum. Betrachtet man die Crew 1910, wird dieser Trend in den Auskünften des Ehrenbuches
Die Chronologie hebt einige Erlebnisse der „Crew 10” seit ihrem Ausbildungs- beginn hervor
konnten. Aber was war an der „Crew 10“ so besonders? Ist sie repräsentativ – oder ein Ausnahmefall? Wer gehörte dazu? Wer wurde ausgeschlossen? Und welche Bedeutung hatte für sie die marinetypi- sche Gemeinschaft „Crew“? Diesen und vielen weiteren Fragen widmet sich die neue Ausstellung im Deutschen Marine- museum.
Die Ausstellung verbindet für das Museum neue Methoden mit bewährten Ansätzen. Getreu dem Museumsmotto Menschen – Zeiten – Schiffe, werden 14 der 204 See- offizieranwärter vorgestellt. Neu ist hier-
Biografien von Crewangehörigen prägen die Ausstellung
20 Leinen los! 9/2022
Fotos: Deutsches Marinemuseum Wilhelmshaven


































































































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