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europäische Staatenordnung eine schwere Erschütterung, die den Beginn einer lang- fristigen Verschiebung der bisherigen Machtbalance markierte. Unter anderem führte der Krimkrieg zu einer Entfrem- dung zwischen Russland und Österreich, da das Zarenreich mit der Unterstützung der Donaumonarchie als Dank für die Hilfe bei der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes im Jahr 1849 rechnete, woge- gen Österreich sich auf die Seite Großbri- tanniens, Frankreichs und des Osmani- schen Reichs gestellt hatte.
Die Verluste an Menschenleben wäh- rend des rund zweieinhalb Jahre dauern- den Krimkriegs waren auf beiden Seiten immens gewesen. So verzeichneten die Alliierten schätzungsweise 220 000 Tote, während auf russischer Seite etwa 450 000 Todesopfer zu beklagen waren. Allein die Kampfhandlungen hatten zahllose Men- schenleben gefordert, da die Generale beider Seiten ohne Bedenken Tausende ihrer Soldaten rücksichtslos geopfert hat- ten. Doch noch viel mehr Soldaten waren an mangelnder Hygiene, Krankheiten und unzureichender Behandlung ihrer Verwun- dungen gestorben. Die medizinische Ver- sorgung der britischen und französischen Truppen war katastrophal, obgleich sich die britische Krankenschwester Florence Nightingale unermüdlich um eine Verbes- serung der Krankenpflege bemühte. Zugleich war der Krimkrieg die erste mili- tärische Auseinandersetzung, in der die öffentliche Meinung eine entscheidende Rolle spielte. Neueste technische Errun- genschaften wie die elektrische Telegra- fie und die Fotografie ermöglichten der
interessierten Öffentlichkeit zum ersten Mal in der Geschichte einen zeitnahen und anschaulichen Einblick in den Verlauf eines Krieges. Als erster Journalist weltweit nutzte der aus Irland stammende Kriegs- berichterstatter William H. Russell den elektrischen Telegrafen, um seine Augen- zeugenberichte per Morsecode nach Lon- don zu schicken, wo sie in der Tageszeitung „The Times“ erschienen. Angesichts seiner ungeschminkten Schilderung der Inkom- petenz der Generale und der unzureichen- den Versorgung der Soldaten wandte sich die öffentliche Meinung in Großbritannien mehr und mehr gegen den Krieg.
Technische Entwicklungen
In vielerlei Hinsicht war der Krimkrieg von 1854 bis 1856 ein Desaster, doch für die Entwicklung des Seekriegs und des Kriegs- schiffbaus war er gleichsam eine Initialzün- dung. Die Seeschlacht von Sinope und die Beschießung von Sewastopol hatten die Verwundbarkeit der herkömmlichen höl- zernen Kriegsschiffe und die Überlegen- heit der neuen Explosivgeschosse nach- drücklich und unmissverständlich unter Beweis gestellt. Mit dem erfolgreichen Einsatz gepanzerter, schwimmender Bat- terien gegen russische Bombenkanonen hatten die Franzosen eine ideale Lösung dieses Problems gefunden. Die Beschie- ßung und anschließende Eroberung der Festung Kinburn hatte zwar kaum Einfluss auf den weiteren militärischen Verlauf des Krimkriegs, dafür aber umso mehr auf die Entwicklung des Kriegsschiffbaus, denn die Widerstandsfähigkeit der schwim- menden Batterien gegenüber dem russi- schen Abwehrfeuer bewies, dass die Pan- zerung von Schiffen die einzige Antwort auf die neuen Explosivgeschosse war, die bei Sinope die türkische Flotte vernich- tet hatten. Die Panzerung hatte ihre erste Feuerprobe bestanden, das Zeitalter der Panzerschiffe begann. Ebenso entschei- dend war der Krimkrieg für die endgül- tige Durchsetzung der Dampfmaschine, die erneut und zum ersten Mal in größe- rem Rahmen die Vorteile eines von Wind und Strömung unabhängigen Antriebs im Gefecht unter Beweis gestellt hatte. Rasch wurden die vergleichsweise primiti- ven „Schwimmenden Batterien“ als erste Panzerfahrzeuge der neueren Marine- geschichte durch modernere, hochsee- taugliche Konstruktionen ersetzt. Schon im August 1859 erfolgte mit der französi- schen Segel-Dampffregatte glOire der
Die Alliierten greifen die russischen Fes- tungsanlagen auf der Halbinsel Kinburn an
Die französische Segel-Dampffregatte gloire war das erste hochseetüchtige Panzerschiff
Geschichte
Schwimmende Artillerieplattform der Franzosen
Stapellauf des ersten hochseetüchtigen Panzerschiffes. Nur zwei Jahre später, im August 1861 wurde, gleichsam als Antwort auf den Bau der glOire, in Großbritannien die gepanzerte Segel-Dampffregatte War- riOr in Dienst gestellt, die im Gegensatz zu ihrem französischen Vorgänger bereits einen eisernen Rumpf besaß und damit den Rüstungswettlauf um das ultimative Panzerschiff einleitete.
Die „Schwimmenden Batterien“ hingegen verschwanden bald wieder aus dem akti- ven Flottendienst. Drei der französischen Panzerbatterien wurden im Sommer 1859 kurzfristig reaktiviert und zu Blockade- zwecken im Krieg gegen Österreich ver- wendet. Nach diesem letzten Einsatz wur- den sie nach und nach aus der Flottenliste gestrichen. Im November 1871 wurde mit der FOudrOyante die letzte der fünf franzö- sischen Einheiten außer Dienst gestellt und anschließend abgewrackt. Die britischen Panzerbatterien dagegen wurden nie im Kampf eingesetzt. 1874 wurden mit der thunder und der aetna die beiden letzten „Schwimmenden Batterien“ abgebrochen. Auch die Bombenkanone hatte zu diesem Zeitpunkt längst ausgedient. Wesentlich leistungsstärkere Granatgeschütze mit gezogenem Rohr hatten sie abgelöst, nicht nur in den Heeresarsenalen, sondern vor allem auf den modernen Panzerschiffen der europäischen Marinen. 7
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