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Geschichte
chem Dampfantrieb, gesetzt hatte, die russischen Befestigungen von See her unter Feuer nahm.
Entscheidend für den Erfolg des alliier- ten Angriffs auf die Festung Kinburn war dabei der Einsatz einer neuen Seekriegs- waffe – des Panzerschiffs. Als Reaktion auf die Schlacht von Sinope im Novem- ber 1853 hatten Briten und Franzosen im Sommer 1854 jeweils fünf schwimmende Panzerbatterien für den küstennahen Einsatz auf Stapel gelegt. Der Bau der vier britischen Fahrzeuge – ein Schiff war noch auf der Helling durch ein Feuer zer- stört worden – konnte bereits im folgen- den April weitgehend abgeschlossen wer- den, während die Fertigstellung der bei- den letzten französischen Einheiten erst im August 1855 erfolgte. Dafür gelang es den Franzosen als erste, ihre Panzerbat- terien in das Schwarze Meer zu verlegen. Im August 1855 verließen die drei schwim- menden Artillerieplattformen dévastatiOn, tOnnante und lave ihre Bauwerften an der französischen Atlantikküste und machten sich, geschleppt von Raddampffregatten, auf den Weg durch das Mittelmeer bis ins Schwarze Meer, wo sie rechtzeitig für den geplanten Angriff auf Kinburn eintrafen. Am 17. Oktober 1855 griffen die drei Schiffe die russischen Befestigungen auf der Halb- insel Kinburn aus einer Entfernung von weniger als 1000 m an. Dabei gerieten sie unter heftigen feindlichen Beschuss, doch die eisernen Vollkugeln prallten einfach von der Panzerung ab und hinterließen lediglich rund 5 cm tiefe Dellen, während die Explo- sivgeschosse beim Auftreffen zwar deto- nierten, aber ebenfalls keinen größeren Schaden anrichteten. Der Angriff der Pan- zerbatterien kostete die Franzosen daher lediglich 28 Tote und Verwundete, haupt- sächlich durch Geschosse und Splitter, die durch Luken oder Stückpforten in das Schiffsinnere eindrangen. So schlugen auf
Die Bombardierung Sewastopols
der dévastatiOn drei, auf der tOnnante zwei russische Geschosse durch die Stückpfor- ten, wobei sie im Inneren der beiden Schiffe einigen Schaden anrichteten sowie einige Seeleute töteten oder verwundeten.
In dem rund vierstündigen Artillerieduell feuerte die vier Panzerbatterien jeweils rund 1000 Schüsse auf die russischen Stel- lungen ab und brachten so die russischen Geschütze nach und nach zum Schwei- gen. Schließlich ergab sich gegen Mittag des 17. Oktober die russische Besatzung der Festung Kinburn den britischen und französischen Angreifern. Eindrucksvoll hatten die neuartigen Panzerschiffe ihren Gefechtswert und vor allem ihre faktische Unverwundbarkeit auch gegenüber den modernsten Geschützen der damaligen Zeit unter Beweis gestellt.
Damit war die alte Seekriegsregel, dass sich ein Schiff bei einem Kampf mit einer gut platzierten Landbatterie in tödliche Gefahr begab, ein für alle Mal auf den Kopf gestellt. Wie sich nach dem Gefecht herausstellte, hatte die dévastatiOn insge- samt 64 und die tOnnante sogar 75 Treffer erhalten, ohne außer Gefecht gesetzt zu werden. Jedes herkömmliche Kriegsschiff hätte ein solcher Beschuss in ein brennen- des Wrack verwandelt, während es den französischen Panzerbatterien gelungen war, sich nicht nur im feindlichen Feuer zu behaupten, sondern auch die feindlichen Geschütze zum Schweigen zu bringen. Die
vier britischen Panzerbatterien dagegen erreichten erst Ende Oktober 1855 das Schwarze Meer und kamen nicht mehr zum aktiven Einsatz.
Da die Russen nicht bereit waren, die Friedensbedingungen der Alliierten zu akzeptieren, zogen sich die Kampfhand- lungen weiter in die Länge. Erst nach- dem Österreich erneut mit einem Eintritt in den Krieg auf Seiten des Osmanischen Reichs gedroht hatte, willigte Russland in einen Waffenstillstand und in Friedensver- handlungen ein. Letztendlich hatte sich in diesem zunehmend auch als Material- schlacht geführten Konflikt das autokra- tisch regierte, agrarisch geprägte Russ- land mit seinem Heer aus unwillig dienen- den Leibeigenen den westlichen Indus- triemächten England und Frankreich als unterlegen erwiesen.
Frieden von Paris
Am 30. März 1856 wurde in Paris ein Frie- densvertrag geschlossen, in dem Russland seine Niederlage eingestehen musste. Für die expansive russische Balkanpolitik war dies ein herber Rückschlag: Zar Alexan- der II., Sohn und Nachfolger des 1855 ver- storbenen Nikolaus I., musste auf seine Ansprüche auf die Donaufürstentümer und die Schutzherrschaft über die ortho- doxen Christen im Osmanischen Reich ver- zichten. Des Weiteren trat Russland die Donaumündungen sowie weitere Gebiete an das Fürstentum Moldau ab und akzep- tierte eine freie Donauschifffahrt unter internationaler Kontrolle. Darüber hinaus wurde das Schwarze Meer entmilitarisiert und Russland damit untersagt, dort weiter- hin Seestreitkräfte zu unterhalten.
Für Zar Alexander II. wurde die Niederlage zum Anstoß für ein umfassendes Reform- programm. Dagegen bedeutete der Krim- krieg für die nach dem Ende der Napo- leonischen Kriege 1815 geschaffene und auf dem Gleichgewicht der fünf Groß- mächte Großbritannien, Frankreich, Russ- land, Österreich und Preußen basierende
Rückzug der Russen aus Sewastopol
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