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Seemännische Ausbildung 1955
Das Schiff rollte mit langsamen Bewe- gungen 15 Grad nach beiden Seiten. Der Kommandant, Kapitänleutnant Fritz Dorn, und Elchlepp, beobachteten das Seever- halten des Schiffes. Am Abend wurde es von einer großen Welle an der Backbord- Seite getroffen, hob das Schiff an und ließ es bedrohlich bis 35 Grad nach Steuerbord krängen. Dank der Tonnen Ballast im Dop- pelboden (eingegossener Beton) kam das Schiff langsam wieder in die Ausgangslage zurück. Der Kommandant änderte sofort den Kurs. In den Decks verursachte die Krängung ein Chaos.
Elchlepp war während der Überfahrt ein gefragter Gesprächspartner bei der Besat- zung, den Offiziersschülern und Lehroffi- zieren. Deren idealisierte Sicht über die Sowjetunion war durch die DDR-Medien und SED-Propaganda geprägt. Elchlepp erinnerte sich: „Ich hielt es für notwendig, eine Desillusionierung der Besatzung vor dem Landgang zu erreichen“. Ihm ging es um eine vorurteilsfreie Lageeinschätzung. Er erwähnte die Probleme in der Versor- gung mit Konsumgütern, Lebensmitteln und Bekleidung. Elchlepp beschäftigte die Frage, wie die Leningrader Bevölke- rung die Anwesenheit des deutschen Kriegsschiffes, diesmal unter dem Banner Schwarz-Rot-Gold, aufnehmen würde. Mit welchen Gefühlen und Haltung würden die Leningrader den Deutschen, deren Wehr- macht die Stadt im Krieg 900 Tage ein- schloss und vielen Einwohnern den Tod brachte, nunmehr 1959 begegnen?
Besuch in Leningrad
Am Morgen des 16. Juli kam im Kronstäd- ter Festungsbereich ein U-Jäger der Bal- tischen Flotte längsseits. Verbindungs- offizier, Dolmetscher, Lotse und ein Sig- nalgast stiegen über. Nach Erreichen des Hafens fuhr das Schiff die Newa aufwärts.
Es machte am Anleger unterhalb der Leut- nant-Schmidt-Brücke fest. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war dies die erste Anwesenheit eines deutschen Kriegsschif- fes in der Stadt. Nach perfektem Anlege- manöver ohne Schlepperhilfe kam der Verbindungsoffizier, Kapitän 2. Ranges (Fregattenkapitän) Wasiljew an Bord. Er unterbreitete ein Besuchsprogramm. Elchlepp stattete in Begleitung des Kom- mandanten und Verbindungsoffiziers dem Stabschef des Marinemilitärbezirks einen Antrittsbesuch nach Marine-Protokoll ab. Er erwähnte: „Es gab weder Waffenbrüder noch Freunde, sondern nur Besucher und Besuchte“. Das sollte sich später in politi- scher Absicht ändern. Den Gegenbesuch an Bord machte ein sowjetischer Kapitän zur See, entsprechend dem Dienstrang des Kommandeurs der Fahrt. Elchlepp traf sich mit Lehroffizieren der Seekriegs- akademie. Darunter dem Kapitän 1. Ran- ges Trawkin, ein U-Boot-Kommandant und zweifacher Held der Sowjetunion. Ech- lepp erinnerte an die Dispute mit Trawkin über technische Parameter des U-Bootes Typ VII C. Z.B. über die von Trawkin „ange- zweifelte Tauchzeit in 28 Sekunden bei vol- ler Fahrt voraus auf 14 m Seerohrtiefe“. Leningrader und DDR-Touristen nutzten die Gelegenheit, um das Flagg- und Schul- schiff der DDR zu besichtigen. Die zu jener Zeit für ein Jahr an der Seekriegsakademie studierenden Kapitäne zur See Fritz Notroff, Walter Kühn und Rudi Wegner erfreuten sich beim Besuch an Bord über deutsches Roggenbrot mit Schinken und kühlem Bier. Die Fahrtteilnehmer besuchten u.a. die Ere- mitage, Petrodworez (Peterhof), Lomonos- sow (Oranienbaum), den Newski-Prospekt und den Kreuzer auRoRa. Die Landgänger sahen bettelnde Frauen, viele Milizionäre und Betrunkene. Ihnen blieb nicht verbor- gen, dass es im „Mutterland des Kommu- nismus“ auch Prostituierte gab.
Seepolizei-Kommandeur Friedrich Elchlepp 1952 (2. v.r.)
Das „Flotten-Echo“ (1959) veröffentlichte im Stil des damaligen Zeitgeists einen Bericht. 30 Jahre später lieferte Elchlepp 1989 einen realistischen Rückblick zum „ersten Besuch eines deutschen Kriegs- schiffes nach 1945 in Leningrad“. Wieder 30 Jahre später erleben wir ein Kapitel mili- tärischer Konfrontation und Gegnerschaft.
Außer Dienst
Am 16. Januar 1961 wurde einem Küsten- schutzschiff der RiGa-Klasse der Name eRnst thälMann verliehen. Das Schulschiff wurde in albin köbis umbenannt. Wegen diverser technischer Probleme und hohem Repara- turaufwand ging es am 30. September 1961 außer Dienst. Es lag noch zwei Jahre als Wohnschiff in Saßnitz und kam 1963 zur Ver- schrottung nach Warnemünde. Am 25./26. September 1965 wurde der Schiffsrumpf in See vor Rosenort, zwischen Graal-Müritz und Markgrafenheide, gesprengt. Damit vollendete sich seine 36-jährige Geschichte. Als Schulschiff-Kommandant waren einge- setzt: Hans Wild, Walter Mehlhorn, Günter John und Fritz Dorn. Zu den Leitenden Inge- nieuren gehörten: Horst Ziemann, Wolfgang Posselt, Ulrich Mädel und Gerhard Becker. Als I WO an Bord fuhren: Rudolf Eckstein, Herbert Kowal, Hans-Dieter Fröhlich und Friedrich Papst. 7
Nach dem Ablegen am 20. Juli erwähnte Wasiljew, der mit Dolmetscher und Lotse bis Feuerschiff leninGRad an Bord verblieb: „Sie (Besatzung) sind durch ihre gute Hal- tung und Disziplin aufgefallen. Es hat sich gezeigt, dass es keinen Hass mehr zwi- schen unseren Völkern gibt. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie nächstes Jahr wieder- kämen.“ Das sollte sich 1960 erfüllen. Die „Leningradskaja Prawda“ und „Sowjetski Flott“ berichteten über den Besuch von Angehörigen der Seestreitkräfte der DDR.
Geschichte
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Foto: ZB Junge, Archiv Ingo Pfeiffer
Fotos: Waldemar Luther


































































































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