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MARITIME SICHERHEITSPOLITIK
Der Ukrainekrieg und das Berufsethos der Marinesoldaten Marc-L. Thiele
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dominiert die medialen und sicherheitspolitischen Debatten. Die Bedrohung der territorialen Integrität der Ukraine besteht
allerdings schon wesentlich länger und wurde mit der Anne- xion der Krim 2014 Wirklichkeit. Zu dieser Zeit leistete ich Dienst auf dem Einsatzgruppenversorger fRankfuRt aM Main und kann mich somit noch gut an den Tag der Invasion erin- nern. Wir befanden uns als Teil eines Einsatz- und Ausbil- dungsverbands (EAV) bereits einige Wochen auf See, als über die Schiffslautsprecher die verfügbare Besatzung in den Han- gar zu einer Unterrichtung gerufen wurde. Diesmal sollte es sich jedoch nicht um eine außerplanmäßige, politische Bil- dung handeln. Die Stimmung war angespannt, die Reaktio- nen verhalten. Die Tatsache, dass sich unsere Einheit bereits auf See befand, machte unseren Einsatz im Falle einer deut- schen Beteiligung am Konflikt umso wahrscheinlicher. Was mich damals sehr beeindruckte, war die Gefasstheit meiner Kameradinnen und Kameraden, welche nach der anfängli- chen Irritation rasch eintrat. Nach einer langen Zeit des Frie- dens in Europa war dieses Maß an beruflicher Professionali- tät für mich keineswegs selbstverständlich.
Damals wie heute sorgte die Krise für breite Debatten zur Sicherheitspolitik, in denen es zumeist um die technische, mate- rielle und finanzielle Ausstattung der Bundeswehr ging. Als Stu- dent im sozialwissenschaftlichen Bereich faszinierten mich aller- dings die Meldungen über ein gestiegenes Interesse von jun- gen Menschen an einer Karriere bei der Bundeswehr. Konkret lässt sich dies zum Beispiel an den erhöhten Zahlen zu Anfra- gen für Erstberatungstermine ablesen. Wie macht sich dieses Phänomen bei den Rekrutinnen und Rekruten meiner ehema- ligen Teilstreitkraft bemerkbar? Dazu habe ich Flottillenadmi- ral Jens Nemeyer, den Kommandeur der Marineschule Mür- wik (MSM), in einem Kurzinterview befragt.
Herr Admiral, können Sie einschätzen, inwiefern sich die Bewerberzahlen seit dem russischen Einmarsch in die Ukra- ine verändert haben?
Nemeyer: Inwieweit sich der Überfall Russlands auf die Ukra- ine auf das aktuelle Bewerbungsverhalten für die Laufbahn der Offiziere auswirkt, kann erst mit dem Einstellungstermin im nächsten Jahr belastbar beziffert werden. Erste positive Einschätzungen lassen sich gleichwohl aus dem Widerrufsver- halten der Offizieranwärter*innen (OA) der Crew 2021 und der leicht gestiegenen Einstellungszahlen der Crew 2022 ableiten. So hatten beispielsweise rund ein Drittel der Kadetten der Crew 2021 aufgrund ihrer Einstellung zum 01.10.2021 noch bis
Marc-L. Thiele studiert Politik- wissenschaft an der Christian- Albrechts-Universität (CAU) und hat beim ISPK ein Praktikum absolviert
Flottillenadmiral
Jens Nemeyer
ist seit September 2021 Kommandeur der Marineschule Mürwik
zum 31. März 2022 die Möglichkeit des sogenannten Wider- rufrechts. Dieses Recht räumt ihnen die Möglichkeit ein, die Marine aus persönlichen Gründen jederzeit innerhalb der ers- ten sechs Dienstmonate zu verlassen. Niemand aus dem drit- ten Törn hat diese Möglichkeit aufgrund des herrschenden Krieges jedoch in Anspruch genommen.
Darüber hinaus konnten zu den Einstellungsterminen 01.07. und 01.08.22 für die Crew 2022 knapp 10 % mehr Rekruten und Rek- rutinnen als im Vorjahr gewonnen werden. Zudem beobach- ten wir, dass auch die Widerrufsquote im Vergleich zum Vor- jahr gegenwärtig leicht abnimmt.
Wie gehen die OA an Ihrer Schule mit der erhöhten Bedro- hungslage in Europa um?
Nemeyer: Natürlich ist die aktuelle Bedrohungslage auch the- matisch allgegenwärtig in der Marineschule Mürwik. Folglich sprechen wir viel mit den Kadetten darüber – während des und nach dem Dienst –, was es bedeutet, notfalls auch unter dem Einsatz des eigenen Lebens, Deutschland und seine freiheit- lich-demokratische Grundordnung zu verteidigen. Dieser Teil des Soldatenberufs war früher eher abstrakt und wenig kon- kret. Nun ist es vor dem Hintergrund der medialen Bericht- erstattung sehr nah und für die Kadetten greifbar. Sie gehen nach unseren Beobachtungen insgesamt sehr gelassen mit dieser Situation um, sind interessiert an der aktuellen geopo- litischen Lage und sind sich der Konsequenzen ihrer Berufs- wahl sehr bewusst.
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Foto: Bundeswehr/Christian Zielonka
Foto: privat