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Geschichte
ner wurde am 17. Juni die Leitung des Stabes übertragen. Als Chef der Abtei- lung Operativ im Stab der Hauptverwal- tung Ausbildung (HVA) bzw. dann KVP war er für die Planung und Führung des Einsatzes der KVP-Einheiten und Bereit- schaftspolizei zuständig. Wagners Stab hatte die Einsätze der Polizeikräfte zu koordinieren. Wagner, seit 1945 bei der Polizei, war mit der Führung des Stabes überfordert. Offiziere beschrieben sei- nen Führungsstil in den Junitagen als chaotisch und nicht lagebezogen. Im MdI-Stab dominierte ein diffuses Lage- bild. Ein Dienstbuch über eingehende MeldungenunderteilteBefehlewurde nicht geführt. Es existierte keine Über- sicht, welcher Befehl, an wen und wann gegeben wurde. Hiobsmeldungen, Ver- mutungen und oberflächliche Aufklä- rung führten zu Irrtümern in der Lage- beurteilung und Befehlsgebung. Wagner war z.B. in dem Glauben, dass die VP-See in Stralsund gegenüber den streikenden Werftarbeitern nicht mehr Herr der Lage war. Daraufhin kam es zum Einsatz des sowjetischen Militärs.
Am Abend des 19. Juni meldete der MdI- Stab aus Berlin: „feindliche Fallschirm- jäger über Usedom“. Dem Chef der VP- See wurde befohlen, Maßnahmen zur Sicherung der Halbinsel einzuleiten. An die Signalstellen ging um 20.58 Uhr die Weisung „verstärkte Luftraumbeob- achtung“. Der Chef des Marine-Stabes befahl Flottillenchef KptzS Elchlepp, die Aufstellung von Einsatzkommandos mit Lkw, Pkw und Kräder sowie von „Spe- zialtruppen“. Um 21.15 Uhr stand eine
Kompanie mit 60 Mann (mit Gewehr 98 K) und 6 Offizieren (mit Pistole 08) in Bereitschaft. 48 Minuten später wur- den 2 weitere Züge mit 40 Mann und 4 Offizieren in Bereitschaft versetzt. Den Transport übernahmen 4 Lkw. Die mobi- len „Spezialkräfte“ umfassten 12 Offi- ziere und 8 Meister (Feldwebel) mit 5 BMW und 2 Krädern (Melder). Neukir- chen und Elchlepp, zwei kriegsgediente Marineoffiziere, bezweifelten den „feind- lichen“ Fallschirmjäger-Einsatz. Neukir- chen befahl, die Lage auf Usedom mit Kradmelder und Pkw-Streifen aufzuklä- ren. Die MdI-Meldung platzte wie eine Seifenblase.„Jemand“inWagnersStab befand die Halbinsel Usedom für Fall- schirmjäger-Einsätze als gut geeignet. Am 21. Juni erhielt der Marinestab aus Berlin telefonisch die Anweisung, Kräfte zur Sicherung von Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn in Greifswald ein- zusetzen. Das zweieinhalb Stunden spä- ter dazu eingehende Telegramm enthielt „Einsatz vorbereiten“. Da befanden sich 124 Mann bereits vor Ort. Selbst in Ber- lin schien der MdI-Stab die Übersicht ver- loren zu haben. Das belegt die Anwei- sung, das Stabsquartier der VP-See in der Schnellerstraße zu sichern. Aus dem war der Marinestab am 15. Juni ausgezogen.
Entspannung
Nachdem man im MdI überzeugt war, dass die Fischkutter weder zur Lübecker Bucht noch dänischen Küste durchbre- chen, entspannte sich ab 20. Juni die Lage. Fluchten von Bürgern in See blie-
ben aus, wie auch das von Hardlinern im MdI und MfS prophezeite Eindringen von Diversanten. Wegen zunehmendem NW- Wind Bf 5 liefen die R-Boote am Abend des 19. Juni in Peenemünde ein. Der Pat- rouilleneinsatz vor den Hafenansteue- rungen Wismar, Warnemünde, Stralsund und Sassnitz wurde bis 23. Juni aufrecht gehalten. In Warnemünde lagen die KS- Boote an der Ostmole in Bereitschaft. Langeweile und Fragen über den Sinn des Bereitschaftsdienstes dominierten.
Funkverkehr überlastet
Der MdI-Stab forderte eine stündli- che Lagemeldung per Funktelegramm nach Berlin. Im Verlauf des sieben Tage andauernden Einsatzes wechselten ca. 800 Funksprüche und Telegramme zwi- schen den Stäben des MdI in Berlin und der VP-See in Parow. Wegen der gefor- derten Meldungen kam es zur Unterbre- chung laufender Funksprüche innerhalb der VP-See. Sie erreichten eine Laufzeit von mehreren Stunden. Auch der Funk- verkehr über „Welle LF 2“ der Flotten- basis Ost zur Befehlsübermittlung an die in See stehenden Schiffe und Boote war völlig überlastet. Innerhalb von 53 Stunden, vom Auslaufen am 18. Juni bis 20. Juni (21.45 Uhr), wechselten 232 Funksprüche zwischen dem Marinestab und den in See operierenden Schiffen. 20 % betrafen Störungsmeldungen an Bord. Auch hier erreichten Funksprüche eine Laufzeit bis zu 6 Stunden. KAdm Neukirchen und KptzS Elchlepp rüg- ten die Kommandosprache der Funker und Schwächen des Chiffrierpersonals. Die Funker an Bord waren dermaßen überlastet, dass operative Befehle des Chefs der Flottenbasis auf See teilweise nicht empfangen wurden. Das betraf vor allem die 2. KS-Bootsgruppe im Seege- biet vor Warnemünde bis Höhe Darss. KptzS Elchlepp schätzte ein: „Der Grup- penführer der 2. Gruppe erfüllte die gestellten Aufgaben nur ungenügend. Die über Funk gegebenen Befehle wur- den nicht richtig ausgeführt. Die befoh- lene Position der 2. Gruppe wurde mit 12 Stunden Verspätung eingenommen.“ Kritisch bewertete er die Befehlsausfüh- rung auf dem KS-Boot 131. Hier vergin- gen von der Befehlserteilung „sofort in Warnemünde einlaufen“ bis zur Aus- führung 30 Stunden. Ein Reserveboot überbrachte in See den Einlaufbefehl. Weil auf KS-131 die Funkanlage defekt
KS-Boot der Grenzpolizei-See
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