Page 38 - LL 06/2023
P. 38

Geschichte
R-Boot im Jahr 1953
war und selbst das Radio keinen Ton von sich gab, kannte der Kommandant des Bootes weder die aktuelle Befehls- noch politische Lage.
Dienstverweigerung
Angehörige der VP-See, deren Denken und Handeln im Widerspruch zur Partei- linie (SED) stand, wurden als Gerüchte- und Stimmungsmacher, Befehlsverwei- gerer oder Provokateure abgestempelt und der „Feindpropaganda“ bezichtigt. Offiziersschüler, die wegen des Bahn- chaos verspätet aus dem Urlaub zurück- kehrten, hatten unter dem Eindruck der in Magdeburg, Leipzig, Halle und Ber- lin erlebten Auseinandersetzungen zwi- schen der Bevölkerung und sowjeti- schem Militär das Vertrauen in die DDR- Regierung verloren. 52 Offiziers- und Unteroffiziersschüler stellten im Juni einen Entlassungsantrag. Sie werteten den Protest der Arbeiter als Ausdruck der Unzufriedenheit. Wegen der Miss- stimmung unter den Offiziersschülern ordnete die Leitung der Seeoffiziers- Lehranstalt eine „Urlaubsauswertung“ an. Daran nahmen der Chef der VP-See, VAdm Verner und der sowjetische Bera- teroffizier Kapitän 1. Ranges Abramow teil. Heftig diskutierende Offiziersschü- ler, die den Einsatz sowjetischer Panzer verurteilten, wurden ermittelt und iso- liert. Wegen ihrer „feindlichen Position“ gerieten einige in Untersuchungshaft. Unter dem Eindruck der erlebten Aus- schreitungen in Magdeburg, wo auf-
gebrachte Bürger den Marinern auf dem Bahnhof die Uniform vom Leibe rissen, beharrten viele auf ihrer Entlas- sung. Der Kommandeur der Seeoffi- ziers-Lehranstalt, FKpt W. Nordin, ord- nete die Überprüfung jedes Offiziers- schülers auf dessen Eignung als künfti- ger Offizier an. Er erklärte: „Derjenige der keine Lust hat oder ungern Befehle ausführt, ist zu entlassen“. Wegen Vor- gaben zu „Verhaltensregeln im Einsatz“ waren Lehr- und Kompanie-Offizieren nicht bereit, persönliche Verantwor-
tung für Zwischenfälle zu übernehmen. Sie verlangten von der Schulleitung die schriftliche Aushändigung aller Einsatz- befehle. Offiziere, die den Streik als berechtigte Volkswut gegen die Ent- scheidungen der Regierung werteten, galten als politisch schwachsinnig. Das betraf auch Offiziere, die Arbeitsnie- derlegungen der Werktätigen befür- worteten und Provokationen irrege- führter Bürger ablehnten. Besatzungs- angehörige auf KS-121 werteten die Ver- hängung des Ausnahmezustandes als Verstoß gegen die Verfassung der DDR und Unterdrückung der Protestbewe- gung der Arbeiter. Matrosen vom KS- Boot 117 kamen in Untersuchungshaft, weil sie den Befehl zum Einsatz gegen streikende Arbeiter ablehnten. Marine- soldaten im Stützpunkt Wolgast wand- ten sich gegen die Aburteilung von Bür- gern nach dem Kriegsgesetz. Matro- sen vom Hafenschutzkommando Sass- nitz stellten die Frage: „Wenn in Berlin angeblich alles in Ordnung ist, weshalb darf man dann nicht die Dienststelle ver- lassen“. Trotz des dienstlichen Verbots Westradio zu hören, empfingen Marine- soldaten in der Flottenbasis Ost RIAS- Nachrichten. Der RIAS galt als West- berliner Hetzsender und „Anstifter des Putsches“. In Konsequenz wurden dort sämtliche Radios eingezogen. Das ein- zige im Klubraum verbliebene Radio stand unter Aufsicht. 7
38 Leinen los! 6/2023
Führung der VP-See, v.l.: Verner, Elchlepp, Scheffler, Neukirchen


































































































   36   37   38   39   40