Page 65 - Leinen los 7-8/2024
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Flucht über die Ostsee Eine Augenzeugin erzählt
Christian Lantau/ws
Es war ein Herzenswunsch der 99-jährigen Irmgard Ernst aus der Nähe von Schleswig, noch einmal das MEM in Laboe zu besuchen und die Erinnerungen an den 30. Januar 1945 in Gotenhafen aufleben zu lassen. In Beglei- tung ihrer Kinder war der Raum „Flucht über die Ostsee“ in der Historischen Halle das Ziel der rüstigen und vitalen alten Dame. Hier hatte sie bereits vor Jahrzehnten die Details der Flucht anhand von Modellen besich- tigt. Nun ging es aktuell darum, noch einmal über die Geschehnisse in jenen Januar- und Februartagen 1945 zu berichten. Dazu zeichnete ein Mitarbeiter des Besucherteams ein 18-minütiges Gespräch mit Irmgard Ernst auf.
Aus ihrer Heimat zwischen Allenstein und Elbing machte sich die Familie zu Fuß in Richtung Westen auf den Weg: „Es war Winter mit 21 Grad minus und somit bitterkalt“, erzählt Irmgard Ernst. Acht Personen marschierten stur und ohne auf durchquerte Orte zu achten einfach der Masse hinterher. Die Weich- sel wurde überquert. Ein kleiner Junge war krank und musste die gesamte Zeit getragen werden, was für ein Kraftakt der Mutter! Durch einen Zufall gelangte die Gruppe aus vier Frauen und vier klei- nen Kindern mit dem Zug nach Goten- hafen.
Es war der 30. Januar 1945 und die Pier im Hafen war voller Menschen. Es herrschte ein unübersichtliches Gedränge und am Kai lag noch die WiLHeLm guStLoFF, die bereits völlig überfüllt war. Die Rettung der Familie war ein anderes Schiff, das ebenfalls mit Flüchtenden besetzt wurde. Den Namen des Schif- fes erfuhr Irmgard Ernst erst Jahre spä- ter von ihrer Cousine, die ebenfalls bei der Flucht dabei war. Es handelte sich um die corona. Der Dampfer, der wohl aus Kiel nach Gotenhafen verlegt hatte, nahm die Familie auf, die im Frachtraum untergebracht wurde. Nun fiel das kranke Kind auf und man wollte die Familie tren- nen, das Kind sollte vom Schiff verbracht werden. Alle wehrten sich dagegen und hatten große Angst, sich zu verlieren. Die Gegenwehr wirkte und alle blieben zusammen.
Die corona legte noch am gleichen Abend ab, Hela wurde umrundet und als Irmgard Ernst am nächsten Morgen die steile Eisentreppe zum Deck herauf-
Familie Ernst im MEM in Laboe
kletterte war das Deck voller Menschen, die bereits von der Versenkung der WiL- HeLm guStLoFF berichteten. Am Horizont schwammen Wrackteile. Irmgard Ernst berichtet: „durch die U-Boot- oder Flie- gergefahr musste der Dampfer ständig die Fahrt unterbrechen. Unzählige Male rasselten die Ankerketten.“ Sie schaut dabei so in die Runde, als höre sie das Geräusch erneut in der Erinnerung. Die Familie hatte etwas altes Brot zu essen, Wasser gab es nicht. Man konnte sich auf den Boden legen oder setzen, und die Notdurft musste in ein altes Glas erledigt werden. Die Verhältnisse waren men- schenunwürdig und die Angst vor einer Versenkung stets präsent. Nach ca. sechs Tagen kam die corona in Warnemünde an. Nun ging es wieder zu Fuß Richtung Westen weiter.
Schließlich gelangte die Familie nach Schleswig-Holstein. Es wurde niemand vermisst, verletzt und es kam niemand ums Leben, was die alte Dame auch heute noch mit Dankbarkeit erfüllt. Irm- gard Ernst fügte noch hinzu, dass es auch Begebenheiten und Erlebnisse während der Flucht gegeben hat, die sie nicht wie- dergeben möchte und die alles zu stark „hochkommen“ lassen.
Familie Ernst begab sich zum Ende des Besuches noch in den Kranzschleifen- raum des Turmes und besichtigte die anti- ken Kranzschleifen der guStLoFF-Überle- benden und der Ostpreußischen Ver- bände, die ihrer Rettung über die Ostsee gedachten und dankten. Frau Ernst ver- ließ das MEM mit den Worten: „Ich bin zufrieden!“ und hinterließ der Nachwelt ein Stück lebendige Geschichte. 7
Deutscher Marinebund
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Foto: DMB


































































































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