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Geschichte
Johann Heinrich Graf von Bernstorff in Diplomatenuniform mit Orden
ten Namen versehenen Brief geschickt und Boy-Ed sogar den Engländern indi- rekt Zugang zum deutschen Geheim- code verschafft hätte. Ob beide an sei- ner, Rintelens, Abberufung mitgewirkt hatten, ist bis heute nicht geklärt. Am 6. Juni 1915 jedenfalls wurde er telefo- nisch nach Washington beordert, wo er von Boy-Ed ein geöffnetes Telegramm ausgehändigt bekam. Es enthielt auch dieses Mal seinen echten Namen und dazu die Aufforderung, augenblicklich nach Berlin zurückzukehren.
Rintelen war fassungslos und sah sein Unternehmen restlos diskreditiert. Den- noch gehorchte er, wickelte alle Geschäfte in New York ab und bestieg unter seinem Decknamen E.V. Gaché den holländi- schen Dampfer nooRdam nach Europa. Die Fahrt stand unter keinem guten Stern, zumal er im Speiseaal von jeman- dem wiedererkannt wurde. Als man am Morgen des 13. August 1915 die engli- sche Küste erreichte, klopfte es an sei- ner Kabinentür. Zwei englische Offiziere mit einer Abteilung schwerbewaffneter Marinesoldaten forderten ihn auf mit- zukommen. Nach drei Tagen auf einem englischen Hilfskreuzer wurde er nach London gebracht und dem besagten Geheimdienstchef Reginald Hall vorge- führt. Bis zuletzt beharrte Rintelen darauf, Schweizer Staatsbürger zu sein, gab sich aber schließlich doch geschlagen, als die Schweizer Gesandtschaft den echten E.V. Gaché ermittelte. Frappiert war er von der Leistung des britischen Geheimdienstes. Hall legte ihm dasselbe Schreiben vor, das
ihm Boy-Ed in Washington ausgehändigt hatte, und behauptete, die Briten hätten das Telegramm selbst aufgesetzt. Eben- falls behauptete er, dass der Geheim- dienst durch Kenntnis des deutschen Codes im August 1914 Admiral Spee zu seinem verhängnisvollen Angriff auf Port Stanley veranlasst hätte. Obwohl Rintelen die Geschichte für eine Finte hielt, über- legte er, wie er die zuständigen Stellen in Deutschland warnen könnte. Nachdem er eine Nacht auf einer Londoner Militär- polizeistation verbracht hatte, gelang es ihm, am folgenden Morgen an den Wach- posten vorbei auf die Straße zu laufen und einen Bus zu besteigen. Als er schon auf dem Oberdeck saß, erlitt er plötzlich einen Nervenzusammenbruch und kehrte zurück. An ein Entkommen war fortan nicht mehr zu denken.
Von London wurde er mit der Eisenbahn in das Kriegsgefangenenlager Doning- ton Hall gebracht, wenig später musste er ein weiteres, deutlich unfreundliche- res Verhör Halls über sich ergehen lassen. Schließlich mischten sich auch die Ame-
zufolge nähte er sich aus alten Stoffres- ten eine schwarz-weiß-rote Fahne, mit der er sich im Fall eines Angriffs als Deut- scher zu erkennen geben wollte.
Die U-Boote blieben aus. Dafür folgte eine nervenzehrende Gerichtsverhand- lung in den Staaten, bei der Rintelen nicht als Kriegsgefangener, sondern als Zivilist angeklagt wurde. Er stritt alle Vorwürfe ab. Nochmals kam ihm Papen in die Quere. Als dieser im Januar 1916 als unerwünschte Person die USA hatte verlassen müssen und in Falmouth vom britischen Zoll durchsucht wurde, fand sich in seinem Gepäck neben anderen kompromittierenden Papieren ein altes Scheckheft, in dem alle Ausgaben mit den jeweiligen Zahlungsempfängern festgehalten waren. Dr. Scheele, der Erfinder der Brandsätze, war auch dar- unter und hatte die Ermittler auf die richtige Spur geführt. Am 5. Mai 1917 wurde Rintelen zu vier Jahren Zwangs- arbeit verurteilt. Er leistete sie im Zucht- haus von Atlanta, Georgia, ab, arbeitete mit gewöhnlichen Verbrechern in der
Zwei Buchtitel in Englisch und Dänisch von Franz von Rintelen
rikaner ein. Während Rintelens zweijäh- riger Internierung tauchten wiederholt Ermittler auf und versuchten, ihn unter allerlei Versprechungen zu einer „frei- willigen“ Rückkehr in die USA zu bewe- gen. Am Freitag, den 13. April 1917 reiste er tatsächlich an Bord der adRia- tic nach Amerika. Unter den Passagie- ren herrschte panische Angst vor deut- schen U-Booten, für Rintelen bedeutete die Gefahr Hoffnung. Seiner Schilderung
Dampfwäscherei, in der Baumwollspin- nerei und im Steinbruch. 1921 wurde er entlassen und kehrte nach Deutschland zurück.
Die Heimkehr war, wie er selbst schreibt, seine „größte Enttäuschung“. Niemand hätte auf ihn gewartet, seine eigene Tochter hätte ihn nicht wiedererkannt. Zudem seien ihm frühere Kollegen mit Kälte und Misstrauen begegnet, wobei Papen und Bernstorff ihm mit der ver-
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Foto: Det Berlingske Bogtrykkeri, København 1936
Foto: Wikipedia
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