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Geschichte
Admiral William Reginald Hall
zusehen. Er beschaffte sich kurzerhand einen englischen Pass, nannte sich Wil- liam Johnson und knüpfte im Kopenha- gener „Hotel d’Angleterre“ Kontakte zu russischen Agenten, denen er versprach, Waffen nach Russland zu transportieren, um sie in Wirklichkeit in seinen Besitz zu bringen. Zwar scheiterte das Unterneh- men an der Unvorsichtigkeit eines Mit- verschwörers, aber das hinderte Rintelen nicht daran, seine konspirative Tätigkeit fortzusetzen. Im Gegenteil. Als er nach Berlin zurückkehrte, machte er sich die inzwischen von Großadmiral Tirpitz eigenmächtig veröffentlichte Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges insofern zunutze, als er seine Verbindung zum US-Militärattaché für eine Richtig- stellung der deutschen Fronterfolge in
der amerikanischen Presse reaktivierte. Damit konnte er wenigstens vorüberge- hend die US-Korrespondenten auf seine Linie bringen. Wichtiger jedoch war, dass er damit seine Eignung für einen Einsatz in Übersee unter Beweis stellte, der ihn schließlich zu einer herausragenden Figur in der internationalen Spionage- geschichte werden ließ.
Entscheidend für Rintelens US-Mission war die Tatsache, dass die Amerikaner trotz ihres offiziellen Neutralitätskur- ses Waffen und Munition an die Kriegs- gegner Deutschlands lieferten. Darüber berichtete der damalige deutsche Mili- tärattaché in Washington und spätere Reichskanzler Franz von Papen wieder- holt nach Berlin. In der Admiralität wurde fieberhaft überlegt, wie man die USA zu einer Kurskorrektur bewegen könnte. Da die Amerikaner auf deutsche Proteste hin erklärten, Waffen auch nach Deutsch- land liefern zu können, wurde Rintelen am 20. März 1915 vom Kriegsministerium mit einer Sondermission in den Staaten betraut. Mit einem „Kaiserpass“ in der Tasche reiste er als Schweizer Geschäfts- mann Emile V. Gaché mit dem Zug nach Oslo und von dort mit dem Schiff nach New York. Obgleich an der deutschen Botschaft in Washington akkreditiert, hatte er wenig Hoffnung, von Papen und dem deutschen Flottenattaché Karl Boy- Ed Unterstützung zu bekommen. Rinte- len befürchtete im Gegenteil, dass beide Herren ihn absichtlich behindern würden, zumal Papen selbst ein Agentennetz in New York aufgebaut hatte und vermut- lich auch persönliche Gründe im Spiel
waren. Da sich der deutsche Botschafter Graf Bernstorff ebenfalls wenig koope- rativ zeigte, handelte Rintelen schließ- lich auf eigene Faust. In New Yorks 75. Straße mietete er sich im „Great Nor- thern Hotel“ ein und führte fortan ein Doppelleben. Während er abends in vor- nehmen Clubs und Gesellschaften ver- kehrte, ging er tagsüber in Straßenklei- dung von Dock zu Dock, sprach bei mut- maßlichen Munitionslieferanten vor und inspizierte auch den Munitionsumschlag- platz auf Black Tom Island, auf den im Juli 1916 ein verheerender Sprengstoff- anschlag („Black Tom Explosion“) verübt werden sollte. Auf seinen Erkundungs- ausflügen begegnete er zahlreichen See- leuten von aufgelegten deutschen Han-
Karl Boy-Ed als Fregattenkapitän der Kaiserlichen Marine
delsschiffen und kam auch mit irischen Hafenarbeitern in Berührung. In beiden fand er potenzielle Verbündete im Kampf gegen die alliierten Munitionstransporte. Zudem traf er einen alten Bekannten wieder, der als früherer deutscher Kon- sul in New York eine Art Ein-Mann-Krieg gegen Deutschlands Feinde führte und ihn nach Sprengstoff fragte. Die Begeg- nung brachte Rintelen im wahrsten Sinne des Wortes auf eine zündende Idee. Mit einem ehemaligen Exportkaufmann gründete er die Scheinfirma „E.V. Gib- bons Inc.“, mietete Büroräume an und ließ das Unternehmen registrieren. Ent- scheidende Bedeutung erlangte für ihn die Bekanntschaft mit einem deutschen Chemiker namens Dr. Scheele. Dieser hatte nicht nur ein Empfehlungsschrei- ben Papens, sondern auch eine mörderi-
Black Tom Island nach dem verheerenden Sprengstoffanschlag
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