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zeitlich ein anderes Schiff die in Aus- sicht gestellten Passagiere (und Prä- mien) übernehmen könnte.
Und tatsächlich – während die sultana mit Volldampf Richtung Vicksburg fuhr, verlie- ßen zwei weitere Flussboote am 22. und am 23. April die Stadt Richtung Norden. Das erste Boot führte 1300 Freigelassene an Bord, das zweite Boot lediglich 700. Diese Diskrepanz wird darauf zurückge- führt, dass Reuben Hatch mutwillig Sol- daten, die noch an Bord gepasst hätten, zurückhielt in der Absicht, sie Captain Mason zuzuspielen. Je mehr Soldaten an Bord der sultana fuhren, desto grö- ßer fielen sowohl die an Mason ausgezahl- ten Transportprämien sowie die an Hatch zu entrichtende Bestechungssumme aus.
Überladen
Die sultana erreichte Vicksburg am Nach- mittag des 23. April. Nach erneuten Ver- handlungen zwischen Mason und Hatch wurde beschlossen, dass sämtliche in Camp Fisk verbliebenen Männer am nächsten Tag auf der sultana ausfahren sollten. Ein zweiter am Pier liegender Rad- dampfer verließ folglich ohne Passagiere die Stadt.
Zwischenzeitlich kümmerte sich Masons Bordingenieur Nathan Wintringer um die Reparatur eines der vier Flammrohrkes- sel; das Teil hatte während der Rückfahrt von New Orleans eine sichtbare Ausbeu- lung und ein Leck entwickelt. Der mit der Reparatur beauftragte Kesselbauer R.G. Taylor veranschlagte eine Woche für eine ausführliche Überholung und riet grundsätzlich, den defekten Kessel zu ersetzen. Aus Furcht, den lukrativen Auftrag in letzter Minute an einen ande- ren Kapitän zu verlieren, ließ Mason –
mit Zustimmung seines Bordingenieurs – den defekten Boiler jedoch nur notdürf- tig flicken.
Am Morgen des 24. April wurde der stell- vertretende Quartiermeister Captain Fre- derick Speed zum Pier beordert, um die Verladung der Freigelassenen zu beauf- sichtigen. Speed weigerte sich anfäng- lich, der sultana Passagiere zuzuteilen, da das Boot nicht auf seiner Dienstliste auf- geführt war. Colonel Hatch intervenierte persönlich und befahl seinem Unterge- benen, sämtliche noch in Camp Fisk ver- bliebenen Soldaten dem Raddampfer zuzuteilen. Im Verlauf des Tages wurden die Männer in drei Eisenbahnzügen zum Pier gebracht.
So kam es, dass letztendlich rund 2300 aus der Gefangenschaft freigelassene Soldaten dichtgedrängt auf der sultana Platz fanden. „Wir marschierten an Bord des alten Schiffs und ich sage Euch, wir waren dichtgedrängt wie in einem Bie- nenkorb“, erinnerte sich später ein Sol- dat. Neben den Freigelassenen befanden sich gut 200 weitere Personen an Bord, darunter 100 zahlende zivile Fahrgäste, 85 Crewmitglieder, und ein 20-köpfiges Army-Geleitdetachement zum Schutz der Passagiere.
Zum Schluss war kein Zentimeter des Decks mehr frei. Sogar im Boilerraum waren Hunderte Soldaten unterge- bracht. Fest steht, dass die sultana fünf- bis sechsmal so viele Personen an Bord nahm wie üblich. Die offiziell zulässige Kapazität des Flussbootes – einschließ- lich Besatzung – lag bei 376. Allerdings galt diese zivile Richtlinie nicht für Schiffe im Dienst des Militärs. Im Verlauf des Krie- ges war es üblich, dass mehr als tausend Soldaten auf einem Flussboot transpor- tiert wurden.
Die völlig überladene suLtAnA am 26. April 1865 nahe Helena, Arkansas
Viele Passagiere der Sultana kamen
aus dem in Georgia gelegenen Gefan- genenlager Anderson. Dieses Lager war aufgrund horrender Zustände und Misshandlungen besonders berüchtigt. Rund 30 % aller hier eingelieferten Sol- daten der Nordstaatenarmee starben in der Gefangenschaft
Gegen 23:00 Uhr am Abend des 24. April verließ die sultana Vicksburg Richtung Norden. Das Ziel war die rund 420 Mei- len entfernte Stadt Cairo, Illinois, wo die Freigelassenen auf Züge Richtung Heimat umsteigen sollten.
Katastrophennacht
Rund 48 Stunden später – kurz nach Mit- ternacht am 27. April – nahm das Boot bei Memphis, Tennessee ausreichend Kohle an Bord, um die letzte Etappe der Reise nach Cairo zu bewältigen. Anschließend begaben sich sowohl Captain Mason wie Chefingenieur Wintringer zur Ruhe. Der zweite Ingenieur, Samuel Clemens (nicht mit dem gleichnamigen Schriftsteller ver- wandt), übernahm die Nachtwache im Boilerraum und ließ Dampf in allen Kes- seln machen, um die starke Strömung des durch Schmelzwasser angeschwollenen Flusses zu überwinden. Auf der Brücke steuerte Lotse George Kayton das Boot mit ca. 10 Meilen pro Stunde stromauf- wärts. Es war ein Uhr nachts.
Eine Stunde später befand sich die sul- tana sieben Meilen nördlich von Mem- phis (250 Meilen nördlich von Vicksburg). Die Fahrt nach Cairo war zur Hälfte bewäl- tigt. Ohne Vorwarnung explodierte der defekte Flammrohrkessel. Die im Hei- zungsraum eingepferchten Soldaten starben sofort im Feuerball oder wurden durch Schrapnelle getötet. Zwei wei- tere Boiler wurden durch glühend-heiße Eisenteile durchbohrt und explodierten binnen Sekundenfrist ebenfalls. Die tra- genden Teile des Hauptdecks und des
Geschichte
Leinen los! 1-2/2023 47
Quelle: Naval History and Heritage Command
Quelle: Library of Congress