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Geschichte
Tödliche Nacht auf dem Mississippi Untergang des Raddampfers suLtana am 27. April 1865
Sidney E. Dean
Am 12. April 1865 kapitulierte Robert E. Lee, Befehlshaber der konföde- rierten Streitkräfte, in Appomattox, Vir- ginia. Der amerikanische Bürgerkrieg – der blutigste Konflikt in der Geschichte der USA – war de facto vorbei, auch wenn einzelne Südstaatenverbände noch bis Juni aushielten. Mehr als 600 000 Solda- ten beider Seiten hatten seit Kriegsbe- ginn 1861 ihr Leben gelassen. Doch das große Sterben war auch nach Appomat- tox noch nicht vorbei.
Bereits einen Monat vor der Kapitulation von General Lee vereinbarten die Kriegs- parteien die gegenseitige Freilassung der rund 350 000 Kriegsgefangenen beider Seiten. Die US-Regierung richtete für frei- gelassene Unionssoldaten mehrere Auf- fanglager entlang des Mississippis und anderer Flüsse ein. Von dort sollten sie auf gecharterten Transportbooten in ihre Heimatregion gebracht werden.
Ein solches Lager war Camp Fisk bei Vicks- burg, Mississippi, rund 400 Meilen flussauf- wärts von New Orleans. Mitte April befan- den sich dort bereits mehr als 4000 frei- gelassene Soldaten der Nordstaaten. Die Lagerverwaltung erwartete die baldige Anweisung für den Weitertransport der Männer und begann zu diesem Zweck, zivile Boote anzuwerben. Die US-Regierung bot den Bootsführern einen – für damalige Ver- hältnisse sehr großzügigen – Standardsatz von 5 Dollar für jeden transportierten Solda- ten und 10 Dollar für jeden Offizier.
Raddampfer SuLtana
Dies war die Lage, als der Raddamp- fer sultana am Montag, dem 17. April in Vicksburg anlegte. Das 80 m lange Boot war 1862 auf der John Lithoberry Werft inCincinnati,Ohio,gebautworden.Der Antrieb bestand aus vier Flammrohrkes- seln. Diese Kessel erzeugten mehr Druck als herkömmliche Boiler und verliehen dem Boot eine überdurchschnittliche Geschwindigkeit. Sie erforderten aller- dings auch mehr Wartung und hatten eine größere Explosionsneigung.
Holzstich des Unglücks, erschienen in der Zeitschrift Harper’s Weekly am 20. Mai 1865
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Ursprünglich für den Baumwolltransport auf dem Mississippi River vorgesehen, beförderte das Boot 1863 bis 1865 regel- mäßig Fracht und Passagiere auf der Route zwischen St. Louis, Missouri und New Or- leans. Hierbei wurde die sultana häufig auch als gecharterter Truppentranspor- ter in den Dienst der Unions- oder Nord- staatenarmee gestellt. Der Kapitän, James Cass Mason, hatte den Ruf eines geschick- ten, aber auch risikofreudigen Bootsfüh- rers, der schwierige Flussabschnitte bei hoher Fahrt bewältigen konnte. Im Verlauf des Krieges stellte er sogar einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf dem mittle- ren Mississippi-Abschnitt auf.
Ein unmoralisches Angebot
MasonhatteauchGeldsorgen.Nachmeh- reren Fehlinvestitionen musste er sogar seine Anteile an der sultana verkaufen. In der Hoffnung, einen der einträglichen Aufträge für den Transport der freigelas- senen Soldaten zu ergattern, suchte er in Vicksburg Lieutenant Colonel Reuben Hatch auf. Als oberster Quartiermeister
der US Army in Mississippi war Hatch ver- antwortlich für Versorgung und Transport der in Camp Fisk befindlichen Soldaten. Der Offizier galt als korrupt, doch war es ihm stets mit Hilfe seines politisch einfluss- reichen Bruders gelungen, Anschuldigun- gen abzuwehren. Nach zwei Unterredun- gen mit Hatch hatte Kapitän Mason die gewünschte Zusage, dass man ihm zum gegebenen Zeitpunkt einen Auftrag für den Soldatentransport erteilen werde. Viele Historiker gehen – sowohl aufgrund Hatchs Ruf sowie anhand des späteren Ablaufs des Geschehens – davon aus, dass Mason den Auftrag durch eine Schmier- geldzahlung ergatterte.
Da eine Freigabe der Transportaufträge frühestens zum kommenden Wochen- ende erwartet wurde, fuhr Mason, wie ursprünglich geplant, mit einer gemischten Fracht nach New Orleans. Die sultana verließ die Stadt wieder am 21. April mit einer Ladung aus 250 Fässern Zucker, rund 70 Pferden und Mauleseln aus Militärbeständen sowie 40 zivilen Passagieren. Mason setzte auf volle Fahrt aus Sorge, dass zwischen-
Quelle: Naval History and Heritage Command