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Geschichte
Passagierdecks wurden zertrümmert, die Deckaufbauten und Schornsteine brachen mittschiffs in sich zusammen.
Das hölzerne Boot geriet sofort in Brand. Die Passagiere drängten sich auf dem Ach- terdeck zusammen, bedrängt durch die Flammen. Viele suchten ihr Heil im Was- ser, während andere an Bord blieben und auf Rettung hofften. „Manche kamen bei der Explosion um und lagen nun unten im Boot, während andere über die Leichen hinweg flohen“, erinnerte sich ein überle- bender Soldat aus Ohio. „Manche wein- ten und beteten, viele fluchten während andere sangen [...] dieser Anblick verfolgt mich noch immer im Schlaf.“
Kayton versuchte die Crew zusammenzu- halten. Er war überzeugt, dass der Brand zu löschen wäre. Doch waren die roten, mit Sand vorgefüllten Löscheimer nicht an ihrem Platz. Wie sich später herausstellte, hatten die Passagiere die Eimer zum Schöp- fen von Trinkwasser aus dem Fluss genutzt und über das gesamte Boot verteilt. Als die Flammen sich unaufhaltsam ausbreiteten, ging auch Kayton, mit einer Holzplanke als Schwimmhilfe gewappnet, von Bord. Wer sich in die eiskalten, reißenden Flu- ten des Mississippi retten konnte, war noch lange nicht sicher. Der Fluss war an die- ser Stelle beinahe fünf Meilen breit; wenn die überfluteten Uferbereiche mitgezählt wurden, erstreckte sich das Wasser, von West nach Ost, mindestens doppelt so weit. Kaum einer der abgemagerten ehe- maligen Gefangenen vermochte solche Distanzen zu schwimmen. Wer konnte, klammerte sich an Treibgut oder Baum- stämme. Einige wenige hatten das Glück, ein Pferd oder Maulesel als Rettungsan- ker zu sichern.
Hilfe aus ungewohnter Richtung
Das seitlich zur Strömung gedrehte führer- lose Boot und die im Wasser befindlichen Überlebenden trieben nun flussabwärts an der Kleinstadt Marion, Arkansas vorbei. Der Ort liegt am westlichen Ufer des Mis- sissippi, gegenüber von Memphis. Wäh- rend des Bürgerkrieges war Marion eine Hochburg der Sezessionisten. Nun eilten die Bürger – darunter Männer, die wenige Wochen zuvor noch in der konföderierten Armee gedient hatten – mit Ruderbooten den Unionssoldaten zur Hilfe.
Der heutige Bürgermeister von Marion, Frank Fogleman, kennt noch heute die Erzählungen aus dieser Nacht. „[Mein Vorfahre] John Fogleman und seine Söhne
Captain James Cass Mason
konnten schnell mehrere Baumstämme zu einem Floß zusammen binden. Sie ruder- ten auf das brennende Boot zu und nah- men Menschen herunter. Um Zeit zu spa- ren, setzten sie die Geretteten auf den Spitzen der [durch Hochwasser überflute- ten] Bäume ab und fuhren zurück, um mehr Menschen vom Boot abzuholen.“ Fogle- man und seine Söhne retteten insgesamt 25 Soldaten vom brennenden Deck der sultana. Auch in Memphis wurde Alarm geschlagen. Fischerboote, Flussdampfer und Kanonenboote legten eilig ab, um Lebende wie Tote zu bergen.
Für die meisten kam jede Hilfe jedoch zu spät. Rund 1800 Mann – darunter auch Captain Mason – starben durch die Explo- sion oder ertranken in den kalten Fluten. Noch Monate später wurden die sterbli- chen Überreste von Passagieren flussab- wärts ans Ufer geschwemmt. Viele der im Verlademanifest eingetragenen Solda- ten wurden nie gefunden. Das Boot selbst brannte bis zur Wasserlinie ab, ehe der Kiel in einer Schlammbank versank.
Gedenken
Sofort wurde über die Ursache der Explo- sion spekuliert. Ein Gerücht besagte,
Das Kanonenboot tyLer ankerte vor Memphis, als die Sultana unterging,
und beteiligte sich an der Rettungsaktion
dass ein fanatischer Südstaatler einen sogenannten Kohlentorpedo an Bord geschmuggelt hatte in der Absicht, so viele Unionssoldaten wie möglich zu töten. Der Begriff Coal Torpedo bezeichnet einen als Kohlebrocken getarnten Sprengsatz, der tatsächlich im Verlauf des Krieges durch die Südstaaten eingesetzt wurde, um Schiffe und Boote zu sabotieren. Trotz des vergleichsweise kleinen Sprengsat- zes reichte die Wucht der Explosion in der Regel aus, um einen Dampfboiler zu sprengen, was häufig zu einer katastropha- len Sekundärexplosion führte. Tatsächlich erfolgten eine ausführliche Untersuchung des Zwischenfalls sowie ein anschließendes Militärtribunal. Die Sabo- tagethese wurde dabei entkräftet, zumal R. G. Taylor detailliert über den Zustand des defekten Kessels aussagte. Schuldzuwei- sungen erfolgten letztendlich nicht, auch nicht gegen den verstorbenen Captain Mason oder dessen Bordingenieur. Colo- nel Hatch entzog sich der Verantwortung, indem er sofort nach dem Unglück seinen Abschied von der Army nahm und nach Illi- nois floh, wo er 1871 verstarb.
Noch heute gilt der Untergang der sultana als schwerste maritime Katastrophe in der Geschichte der US-Schifffahrt. Viele Über- lebende konnten ihr Glück kaum fassen. Aus Dankbarkeit, aber auch zum Geden- ken an die Kameraden, die es nicht schaff- ten, begannen sie sich am Jahrestag des Unglücks an verschiedenen Orten zu treffen. Der letzte Überlebende der sul- tana starb 1936, doch halten Enkel und Urenkel dieser Männer die Tradition auf- recht. Noch heute kommen jährlich rund 100 Nachfahren der sultana-Veteranen zusammen, um die Erlebnisse und Erzäh- lungen ihrer Vorfahren auszutauschen. „Diese Kerls hatten den Eindruck, von der Geschichtsschreibung übersehen zu wer- den“, erklärte Norman Shaw, Gründer des Verbandes der Nachkommen der sultana- Passagiere. „Wir folgen dem Wunsch der Überlebenden und sorgen dafür, dass ihre Geschichte lebendig bleibt.“ 7
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Quelle: Library of Congress Quelle: Mariners’ Museum/Newport News, Virginia


































































































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